Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweite Abtheilung.
Frankreich, sagt man, soll sich diese Sehnsucht
zur Wehmuth zuerst ergossen haben über Ita-
lien, Deutschland, den größten Theil von Europa
hinweg. Nach ihrer Tracht nannte man die
Pilgrimme die weißen Büßenden. Dies war
gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts:
damals soll man zuerst das Stabat mater ge-
sungen haben. Um ein Jahrhundert früher zeigte
sich eine ähnliche Erscheinung, die Gesellschaft
der Geißelnden, nach einer Periode von Helden-
größe, Unthaten und allgemeiner Bedrängniß.
Es greift das übersättigte und ermüdete Leben
oft nach dem Tode, und ergießt sich in Thränen
und zerschmelzender Reue, daß alles wie vor Was-
serfluthen bricht und fällt, was dauernd und
ewig schien, damit nachher aus den Wogen die
grünen Inseln stiller Zufriedenheit und lieblicher
Heimath wieder aufsteigen können.

Erlaubt mir, meine Freunde, sagte Anton,
euch, wenn Ihr nicht zu ermüdet seid, noch ei-
nige Gedichte mitzutheilen, zu denen mich Per-
golese's liebliche Schmerzlichkeit begeistert hat.

Wir werden so, sagte Clara, den Tag und
Abend am schönsten beschließen können.

Ich theile sie jetzt lieber und mit weniger
Aengstlichkeit mit, sprach Anton weiter, da sich
die kritischeren und vernünftigern Zuhörer ent-
fernt haben; denn die kindliche Rührung, die
mich oft ergreift, erscheint dem strengeren Sinne
leicht schwach und kindisch. Es ist eine Sage,

Zweite Abtheilung.
Frankreich, ſagt man, ſoll ſich dieſe Sehnſucht
zur Wehmuth zuerſt ergoſſen haben uͤber Ita-
lien, Deutſchland, den groͤßten Theil von Europa
hinweg. Nach ihrer Tracht nannte man die
Pilgrimme die weißen Buͤßenden. Dies war
gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts:
damals ſoll man zuerſt das Stabat mater ge-
ſungen haben. Um ein Jahrhundert fruͤher zeigte
ſich eine aͤhnliche Erſcheinung, die Geſellſchaft
der Geißelnden, nach einer Periode von Helden-
groͤße, Unthaten und allgemeiner Bedraͤngniß.
Es greift das uͤberſaͤttigte und ermuͤdete Leben
oft nach dem Tode, und ergießt ſich in Thraͤnen
und zerſchmelzender Reue, daß alles wie vor Waſ-
ſerfluthen bricht und faͤllt, was dauernd und
ewig ſchien, damit nachher aus den Wogen die
gruͤnen Inſeln ſtiller Zufriedenheit und lieblicher
Heimath wieder aufſteigen koͤnnen.

Erlaubt mir, meine Freunde, ſagte Anton,
euch, wenn Ihr nicht zu ermuͤdet ſeid, noch ei-
nige Gedichte mitzutheilen, zu denen mich Per-
goleſe's liebliche Schmerzlichkeit begeiſtert hat.

Wir werden ſo, ſagte Clara, den Tag und
Abend am ſchoͤnſten beſchließen koͤnnen.

Ich theile ſie jetzt lieber und mit weniger
Aengſtlichkeit mit, ſprach Anton weiter, da ſich
die kritiſcheren und vernuͤnftigern Zuhoͤrer ent-
fernt haben; denn die kindliche Ruͤhrung, die
mich oft ergreift, erſcheint dem ſtrengeren Sinne
leicht ſchwach und kindiſch. Es iſt eine Sage,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0449" n="440"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
Frankreich, &#x017F;agt man, &#x017F;oll &#x017F;ich die&#x017F;e Sehn&#x017F;ucht<lb/>
zur Wehmuth zuer&#x017F;t ergo&#x017F;&#x017F;en haben u&#x0364;ber Ita-<lb/>
lien, Deut&#x017F;chland, den gro&#x0364;ßten Theil von Europa<lb/>
hinweg. Nach ihrer Tracht nannte man die<lb/>
Pilgrimme die weißen Bu&#x0364;ßenden. Dies war<lb/>
gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts:<lb/>
damals &#x017F;oll man zuer&#x017F;t das <hi rendition="#aq">Stabat mater</hi> ge-<lb/>
&#x017F;ungen haben. Um ein Jahrhundert fru&#x0364;her zeigte<lb/>
&#x017F;ich eine a&#x0364;hnliche Er&#x017F;cheinung, die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
der Geißelnden, nach einer Periode von Helden-<lb/>
gro&#x0364;ße, Unthaten und allgemeiner Bedra&#x0364;ngniß.<lb/>
Es greift das u&#x0364;ber&#x017F;a&#x0364;ttigte und ermu&#x0364;dete Leben<lb/>
oft nach dem Tode, und ergießt &#x017F;ich in Thra&#x0364;nen<lb/>
und zer&#x017F;chmelzender Reue, daß alles wie vor Wa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erfluthen bricht und fa&#x0364;llt, was dauernd und<lb/>
ewig &#x017F;chien, damit nachher aus den Wogen die<lb/>
gru&#x0364;nen In&#x017F;eln &#x017F;tiller Zufriedenheit und lieblicher<lb/>
Heimath wieder auf&#x017F;teigen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>Erlaubt mir, meine Freunde, &#x017F;agte Anton,<lb/>
euch, wenn Ihr nicht zu ermu&#x0364;det &#x017F;eid, noch ei-<lb/>
nige Gedichte mitzutheilen, zu denen mich Per-<lb/>
gole&#x017F;e's liebliche Schmerzlichkeit begei&#x017F;tert hat.</p><lb/>
            <p>Wir werden &#x017F;o, &#x017F;agte Clara, den Tag und<lb/>
Abend am &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten be&#x017F;chließen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>Ich theile &#x017F;ie jetzt lieber und mit weniger<lb/>
Aeng&#x017F;tlichkeit mit, &#x017F;prach Anton weiter, da &#x017F;ich<lb/>
die kriti&#x017F;cheren und vernu&#x0364;nftigern Zuho&#x0364;rer ent-<lb/>
fernt haben; denn die kindliche Ru&#x0364;hrung, die<lb/>
mich oft ergreift, er&#x017F;cheint dem &#x017F;trengeren Sinne<lb/>
leicht &#x017F;chwach und kindi&#x017F;ch. Es i&#x017F;t eine Sage,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[440/0449] Zweite Abtheilung. Frankreich, ſagt man, ſoll ſich dieſe Sehnſucht zur Wehmuth zuerſt ergoſſen haben uͤber Ita- lien, Deutſchland, den groͤßten Theil von Europa hinweg. Nach ihrer Tracht nannte man die Pilgrimme die weißen Buͤßenden. Dies war gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts: damals ſoll man zuerſt das Stabat mater ge- ſungen haben. Um ein Jahrhundert fruͤher zeigte ſich eine aͤhnliche Erſcheinung, die Geſellſchaft der Geißelnden, nach einer Periode von Helden- groͤße, Unthaten und allgemeiner Bedraͤngniß. Es greift das uͤberſaͤttigte und ermuͤdete Leben oft nach dem Tode, und ergießt ſich in Thraͤnen und zerſchmelzender Reue, daß alles wie vor Waſ- ſerfluthen bricht und faͤllt, was dauernd und ewig ſchien, damit nachher aus den Wogen die gruͤnen Inſeln ſtiller Zufriedenheit und lieblicher Heimath wieder aufſteigen koͤnnen. Erlaubt mir, meine Freunde, ſagte Anton, euch, wenn Ihr nicht zu ermuͤdet ſeid, noch ei- nige Gedichte mitzutheilen, zu denen mich Per- goleſe's liebliche Schmerzlichkeit begeiſtert hat. Wir werden ſo, ſagte Clara, den Tag und Abend am ſchoͤnſten beſchließen koͤnnen. Ich theile ſie jetzt lieber und mit weniger Aengſtlichkeit mit, ſprach Anton weiter, da ſich die kritiſcheren und vernuͤnftigern Zuhoͤrer ent- fernt haben; denn die kindliche Ruͤhrung, die mich oft ergreift, erſcheint dem ſtrengeren Sinne leicht ſchwach und kindiſch. Es iſt eine Sage,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/449
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/449>, abgerufen am 19.05.2024.