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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.

Jetzt, sagte Theodor, bringt man um die
Zeit die kleinen Kinder herein, wenn sie nicht
schon alle in Reih' und Glied bei Tische selber
gesessen haben.

Freilich, sagte Manfred, und das Gespräch
erhebt sich zum Rührenden über die hohen idea-
lischen Tugenden der Kleinen und ihrer unnenn-
baren Liebe zu den Eltern, und der Eltern hin-
wieder zu den Kindern.

Und wenn es recht hoch hergeht, sagte Theo-
dor, so werden Thränen vergossen, als die letzte
und kostbarste Flüssigkeit, die aufzubringen ist,
und so beschließt sich das Mahl mit den höchsten
Erschütterungen des Herzens.

Nicht genung, fing Lothar wieder an, daß
man diese Unarten vermeiden muß, jede Tisch-
unterhaltung sollte selbst ein Kunstwerk sein, das
auf gehörige Art das Mahl akkompagnirte und
im richtigen Generalbaß mit ihm gesetzt wäre.
Von jenen schrecklichen großen Gesellschaften
spreche ich gar nicht, die leider in unserm Va-
terlande fast allgemeine Sitte geworden sind, wo
Bekannte und Unbekannte, Freunde und Feinde,
Geistreiche und Aberwitzige, junge Mädchen und
alte Gevatterinnen an einer langen Tafel nach
dem Loose durch einander gesetzt werden; jene
Mahlzeiten, für welche die Wirthinn schon seit
acht Tagen sorgt und läuft und von ihnen träumt,
um alles mit großem Prunk und noch größerer
Geschmacklosigkeit einzurichten, um nur endlich,

Einleitung.

Jetzt, ſagte Theodor, bringt man um die
Zeit die kleinen Kinder herein, wenn ſie nicht
ſchon alle in Reih' und Glied bei Tiſche ſelber
geſeſſen haben.

Freilich, ſagte Manfred, und das Geſpraͤch
erhebt ſich zum Ruͤhrenden uͤber die hohen idea-
liſchen Tugenden der Kleinen und ihrer unnenn-
baren Liebe zu den Eltern, und der Eltern hin-
wieder zu den Kindern.

Und wenn es recht hoch hergeht, ſagte Theo-
dor, ſo werden Thraͤnen vergoſſen, als die letzte
und koſtbarſte Fluͤſſigkeit, die aufzubringen iſt,
und ſo beſchließt ſich das Mahl mit den hoͤchſten
Erſchuͤtterungen des Herzens.

Nicht genung, fing Lothar wieder an, daß
man dieſe Unarten vermeiden muß, jede Tiſch-
unterhaltung ſollte ſelbſt ein Kunſtwerk ſein, das
auf gehoͤrige Art das Mahl akkompagnirte und
im richtigen Generalbaß mit ihm geſetzt waͤre.
Von jenen ſchrecklichen großen Geſellſchaften
ſpreche ich gar nicht, die leider in unſerm Va-
terlande faſt allgemeine Sitte geworden ſind, wo
Bekannte und Unbekannte, Freunde und Feinde,
Geiſtreiche und Aberwitzige, junge Maͤdchen und
alte Gevatterinnen an einer langen Tafel nach
dem Looſe durch einander geſetzt werden; jene
Mahlzeiten, fuͤr welche die Wirthinn ſchon ſeit
acht Tagen ſorgt und laͤuft und von ihnen traͤumt,
um alles mit großem Prunk und noch groͤßerer
Geſchmackloſigkeit einzurichten, um nur endlich,

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[79/0090] Einleitung. Jetzt, ſagte Theodor, bringt man um die Zeit die kleinen Kinder herein, wenn ſie nicht ſchon alle in Reih' und Glied bei Tiſche ſelber geſeſſen haben. Freilich, ſagte Manfred, und das Geſpraͤch erhebt ſich zum Ruͤhrenden uͤber die hohen idea- liſchen Tugenden der Kleinen und ihrer unnenn- baren Liebe zu den Eltern, und der Eltern hin- wieder zu den Kindern. Und wenn es recht hoch hergeht, ſagte Theo- dor, ſo werden Thraͤnen vergoſſen, als die letzte und koſtbarſte Fluͤſſigkeit, die aufzubringen iſt, und ſo beſchließt ſich das Mahl mit den hoͤchſten Erſchuͤtterungen des Herzens. Nicht genung, fing Lothar wieder an, daß man dieſe Unarten vermeiden muß, jede Tiſch- unterhaltung ſollte ſelbſt ein Kunſtwerk ſein, das auf gehoͤrige Art das Mahl akkompagnirte und im richtigen Generalbaß mit ihm geſetzt waͤre. Von jenen ſchrecklichen großen Geſellſchaften ſpreche ich gar nicht, die leider in unſerm Va- terlande faſt allgemeine Sitte geworden ſind, wo Bekannte und Unbekannte, Freunde und Feinde, Geiſtreiche und Aberwitzige, junge Maͤdchen und alte Gevatterinnen an einer langen Tafel nach dem Looſe durch einander geſetzt werden; jene Mahlzeiten, fuͤr welche die Wirthinn ſchon ſeit acht Tagen ſorgt und laͤuft und von ihnen traͤumt, um alles mit großem Prunk und noch groͤßerer Geſchmackloſigkeit einzurichten, um nur endlich,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/90>, abgerufen am 25.11.2024.