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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
dene Sklaven jene sind, die gern alle ihre fal-
schen Flitterschätze um ein Gefühl der Kindlich-
keit, der Unschuld, oder gar der Liebe hingeben
möchten, wenn es sie so beglücken wollte, in ih-
ren dunkeln Kerker hinein zu leuchten. Wie oft
ist der überhaupt in der Welt der Beneidete, der
sich selb[e]r mitleidswürdig dünkt, und weit mehr
Schlimmes geschieht aus falscher Schaam, als
aus wirklich böser Neigung, ein mißverstandner
Trieb der Nachahmung und Verehrung führt
viel häufiger den Verirrten, als Neigung zum
Laster.

Wie aber das Böse nicht zu läugnen ist,
sagte Ernst, eben so wenig in den Künsten und
Neigungen das Abgeschmackte, und man soll sich
wohl vor beiden gleich sehr hüten. Vielleicht,
daß auch beides genauer zusammen hängt, als
man gewöhnlich glaubt. Wir sollen weder den
moralischen noch physischen Eckel in uns zu ver-
nichten streben.

Aber auch nicht zu krankhaft ausbilden,
wandte Manfred ein. -- Ein Weltumsegler un-
sers Innern wird auch wohl noch einmal die
Rundung unsrer Seele entdecken, und daß man
nothwendig auf denselben Punkt der Ausfahrt
zurück kommen muß, wenn man sich gar zu weit
davon entfernen will.

Dies führt, sagte Theodor, indem er mit
Wilibald anstieß, zur liebenswürdigen Billigkeit
und Humanität.


Einleitung.
dene Sklaven jene ſind, die gern alle ihre fal-
ſchen Flitterſchaͤtze um ein Gefuͤhl der Kindlich-
keit, der Unſchuld, oder gar der Liebe hingeben
moͤchten, wenn es ſie ſo begluͤcken wollte, in ih-
ren dunkeln Kerker hinein zu leuchten. Wie oft
iſt der uͤberhaupt in der Welt der Beneidete, der
ſich ſelb[e]r mitleidswuͤrdig duͤnkt, und weit mehr
Schlimmes geſchieht aus falſcher Schaam, als
aus wirklich boͤſer Neigung, ein mißverſtandner
Trieb der Nachahmung und Verehrung fuͤhrt
viel haͤufiger den Verirrten, als Neigung zum
Laſter.

Wie aber das Boͤſe nicht zu laͤugnen iſt,
ſagte Ernſt, eben ſo wenig in den Kuͤnſten und
Neigungen das Abgeſchmackte, und man ſoll ſich
wohl vor beiden gleich ſehr huͤten. Vielleicht,
daß auch beides genauer zuſammen haͤngt, als
man gewoͤhnlich glaubt. Wir ſollen weder den
moraliſchen noch phyſiſchen Eckel in uns zu ver-
nichten ſtreben.

Aber auch nicht zu krankhaft ausbilden,
wandte Manfred ein. — Ein Weltumſegler un-
ſers Innern wird auch wohl noch einmal die
Rundung unſrer Seele entdecken, und daß man
nothwendig auf denſelben Punkt der Ausfahrt
zuruͤck kommen muß, wenn man ſich gar zu weit
davon entfernen will.

Dies fuͤhrt, ſagte Theodor, indem er mit
Wilibald anſtieß, zur liebenswuͤrdigen Billigkeit
und Humanitaͤt.


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[74/0085] Einleitung. dene Sklaven jene ſind, die gern alle ihre fal- ſchen Flitterſchaͤtze um ein Gefuͤhl der Kindlich- keit, der Unſchuld, oder gar der Liebe hingeben moͤchten, wenn es ſie ſo begluͤcken wollte, in ih- ren dunkeln Kerker hinein zu leuchten. Wie oft iſt der uͤberhaupt in der Welt der Beneidete, der ſich ſelber mitleidswuͤrdig duͤnkt, und weit mehr Schlimmes geſchieht aus falſcher Schaam, als aus wirklich boͤſer Neigung, ein mißverſtandner Trieb der Nachahmung und Verehrung fuͤhrt viel haͤufiger den Verirrten, als Neigung zum Laſter. Wie aber das Boͤſe nicht zu laͤugnen iſt, ſagte Ernſt, eben ſo wenig in den Kuͤnſten und Neigungen das Abgeſchmackte, und man ſoll ſich wohl vor beiden gleich ſehr huͤten. Vielleicht, daß auch beides genauer zuſammen haͤngt, als man gewoͤhnlich glaubt. Wir ſollen weder den moraliſchen noch phyſiſchen Eckel in uns zu ver- nichten ſtreben. Aber auch nicht zu krankhaft ausbilden, wandte Manfred ein. — Ein Weltumſegler un- ſers Innern wird auch wohl noch einmal die Rundung unſrer Seele entdecken, und daß man nothwendig auf denſelben Punkt der Ausfahrt zuruͤck kommen muß, wenn man ſich gar zu weit davon entfernen will. Dies fuͤhrt, ſagte Theodor, indem er mit Wilibald anſtieß, zur liebenswuͤrdigen Billigkeit und Humanitaͤt.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/85>, abgerufen am 22.11.2024.