Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Pokal.
nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die
glaubwürdigsten Briefe, man drang heftig in mich,
man benutzte meine Trostlosigkeit, meinen Zorn,
und so geschah es, daß ich meine Hand dem ver-
dienstvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge-
danken blieben dir immer gewidmet.

Ich habe mich nicht von hier entfernt, sagte
Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine
Vermählung. Man wollte uns trennen, und es
ist ihnen gelungen. Du bist glückliche Mutter,
ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin-
der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie
wunderbar, daß wir uns seitdem nie wieder ge-
sehen haben.

Ich ging wenig aus, sagte die Mutter, und
mein Mann, der bald darauf einer Erbschaft we-
gen einen andern Namen annahm, hat dir auch
jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der-
selben Stadt wohnen könnten.

Ich vermied die Menschen, sagte Ferdinand,
und lebte nur der Einsamkeit; Leopold ist beinah
der einzige, der mich wieder anzog und unter Men-
schen führte. O geliebte Freundin, es ist wie eine
schauerliche Geistergeschichte, wie wir uns verloren
und wieder gefunden haben.

Die jungen Leute fanden die Alten in Thrä-
nen aufgelöst und in tiefster Bewegung. Keines
sagte, was vorgefallen war, das Geheimniß schien
ihnen zu heilig. Aber seitdem war der Greis der
Freund des Hauses, und der Tod nur schied die
beiden Wesen, die sich so sonderbar wieder gefun-

Der Pokal.
nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die
glaubwuͤrdigſten Briefe, man drang heftig in mich,
man benutzte meine Troſtloſigkeit, meinen Zorn,
und ſo geſchah es, daß ich meine Hand dem ver-
dienſtvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge-
danken blieben dir immer gewidmet.

Ich habe mich nicht von hier entfernt, ſagte
Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine
Vermaͤhlung. Man wollte uns trennen, und es
iſt ihnen gelungen. Du biſt gluͤckliche Mutter,
ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin-
der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie
wunderbar, daß wir uns ſeitdem nie wieder ge-
ſehen haben.

Ich ging wenig aus, ſagte die Mutter, und
mein Mann, der bald darauf einer Erbſchaft we-
gen einen andern Namen annahm, hat dir auch
jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der-
ſelben Stadt wohnen koͤnnten.

Ich vermied die Menſchen, ſagte Ferdinand,
und lebte nur der Einſamkeit; Leopold iſt beinah
der einzige, der mich wieder anzog und unter Men-
ſchen fuͤhrte. O geliebte Freundin, es iſt wie eine
ſchauerliche Geiſtergeſchichte, wie wir uns verloren
und wieder gefunden haben.

Die jungen Leute fanden die Alten in Thraͤ-
nen aufgeloͤſt und in tiefſter Bewegung. Keines
ſagte, was vorgefallen war, das Geheimniß ſchien
ihnen zu heilig. Aber ſeitdem war der Greis der
Freund des Hauſes, und der Tod nur ſchied die
beiden Weſen, die ſich ſo ſonderbar wieder gefun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0466" n="455"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/>
nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die<lb/>
glaubwu&#x0364;rdig&#x017F;ten Briefe, man drang heftig in mich,<lb/>
man benutzte meine Tro&#x017F;tlo&#x017F;igkeit, meinen Zorn,<lb/>
und &#x017F;o ge&#x017F;chah es, daß ich meine Hand dem ver-<lb/>
dien&#x017F;tvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge-<lb/>
danken blieben dir immer gewidmet.</p><lb/>
          <p>Ich habe mich nicht von hier entfernt, &#x017F;agte<lb/>
Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine<lb/>
Verma&#x0364;hlung. Man wollte uns trennen, und es<lb/>
i&#x017F;t ihnen gelungen. Du bi&#x017F;t glu&#x0364;ckliche Mutter,<lb/>
ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin-<lb/>
der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie<lb/>
wunderbar, daß wir uns &#x017F;eitdem nie wieder ge-<lb/>
&#x017F;ehen haben.</p><lb/>
          <p>Ich ging wenig aus, &#x017F;agte die Mutter, und<lb/>
mein Mann, der bald darauf einer Erb&#x017F;chaft we-<lb/>
gen einen andern Namen annahm, hat dir auch<lb/>
jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der-<lb/>
&#x017F;elben Stadt wohnen ko&#x0364;nnten.</p><lb/>
          <p>Ich vermied die Men&#x017F;chen, &#x017F;agte Ferdinand,<lb/>
und lebte nur der Ein&#x017F;amkeit; Leopold i&#x017F;t beinah<lb/>
der einzige, der mich wieder anzog und unter Men-<lb/>
&#x017F;chen fu&#x0364;hrte. O geliebte Freundin, es i&#x017F;t wie eine<lb/>
&#x017F;chauerliche Gei&#x017F;terge&#x017F;chichte, wie wir uns verloren<lb/>
und wieder gefunden haben.</p><lb/>
          <p>Die jungen Leute fanden die Alten in Thra&#x0364;-<lb/>
nen aufgelo&#x0364;&#x017F;t und in tief&#x017F;ter Bewegung. Keines<lb/>
&#x017F;agte, was vorgefallen war, das Geheimniß &#x017F;chien<lb/>
ihnen zu heilig. Aber &#x017F;eitdem war der Greis der<lb/>
Freund des Hau&#x017F;es, und der Tod nur &#x017F;chied die<lb/>
beiden We&#x017F;en, die &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;onderbar wieder gefun-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[455/0466] Der Pokal. nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die glaubwuͤrdigſten Briefe, man drang heftig in mich, man benutzte meine Troſtloſigkeit, meinen Zorn, und ſo geſchah es, daß ich meine Hand dem ver- dienſtvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge- danken blieben dir immer gewidmet. Ich habe mich nicht von hier entfernt, ſagte Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine Vermaͤhlung. Man wollte uns trennen, und es iſt ihnen gelungen. Du biſt gluͤckliche Mutter, ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin- der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie wunderbar, daß wir uns ſeitdem nie wieder ge- ſehen haben. Ich ging wenig aus, ſagte die Mutter, und mein Mann, der bald darauf einer Erbſchaft we- gen einen andern Namen annahm, hat dir auch jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der- ſelben Stadt wohnen koͤnnten. Ich vermied die Menſchen, ſagte Ferdinand, und lebte nur der Einſamkeit; Leopold iſt beinah der einzige, der mich wieder anzog und unter Men- ſchen fuͤhrte. O geliebte Freundin, es iſt wie eine ſchauerliche Geiſtergeſchichte, wie wir uns verloren und wieder gefunden haben. Die jungen Leute fanden die Alten in Thraͤ- nen aufgeloͤſt und in tiefſter Bewegung. Keines ſagte, was vorgefallen war, das Geheimniß ſchien ihnen zu heilig. Aber ſeitdem war der Greis der Freund des Hauſes, und der Tod nur ſchied die beiden Weſen, die ſich ſo ſonderbar wieder gefun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/466
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/466>, abgerufen am 22.11.2024.