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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
kennen will, durch seine ungefälschte Liebe unwahr
zu machen. Sie gab den Becher, ohne zu trin-
ken, weiter, und die Gesellschaft war auf einige
Zeit verstimmt.

Man erzählt sich, sagte der Kaufmann leise,
indem er sich zum Fremden neigte, daß sie ihren
Mann nicht geliebt habe, sondern einen andern, der
ihr aber ungetreu geworden ist; damals soll sie das
schönste Mädchen in der Stadt gewesen seyn.

Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete
ihn dieser mit Erstaunen, denn es war derselbe,
aus welchem ihm Albert ehemals das schöne Bild-
niß hervor gerufen hatte. Er schaute in das Gold
hinein und in die Welle des Weines, seine Hand
zitterte; es würde ihn nicht verwundert haben,
wenn aus dem leuchtenden Zaubergefäße jetzt wie-
der jene Gestalt hervor geblüht wäre und mit ihr
seine entschwundene Jugend. Nein, sagte er nach
einiger Zeit halblaut, es ist Wein, was hier glüht!
Was soll es anders seyn? sagte der Kaufmann
lachend, trinken Sie getrost! Ein Zucken des
Schrecks durchfuhr den Alten, er sprach den Na-
men Franziska heftig aus, und setzte den Pokal
an die brünstigen Lippen. Die Mutter warf einen
fragenden und verwundernden Blick hinüber. Wo-
her dieser schöne Becher? sagte Ferdinand, der
sich seiner Zerstreuung schämte. Vor vielen Jah-
ren schon, antwortete Leopold, noch ehe ich gebo-
ren war, hat ihn mein Vater zugleich mit diesem
Hause und allen Mobilien von einem alten einsa-
men Hagestolz gekauft, einem stillen Menschen,

Erſte Abtheilung.
kennen will, durch ſeine ungefaͤlſchte Liebe unwahr
zu machen. Sie gab den Becher, ohne zu trin-
ken, weiter, und die Geſellſchaft war auf einige
Zeit verſtimmt.

Man erzaͤhlt ſich, ſagte der Kaufmann leiſe,
indem er ſich zum Fremden neigte, daß ſie ihren
Mann nicht geliebt habe, ſondern einen andern, der
ihr aber ungetreu geworden iſt; damals ſoll ſie das
ſchoͤnſte Maͤdchen in der Stadt geweſen ſeyn.

Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete
ihn dieſer mit Erſtaunen, denn es war derſelbe,
aus welchem ihm Albert ehemals das ſchoͤne Bild-
niß hervor gerufen hatte. Er ſchaute in das Gold
hinein und in die Welle des Weines, ſeine Hand
zitterte; es wuͤrde ihn nicht verwundert haben,
wenn aus dem leuchtenden Zaubergefaͤße jetzt wie-
der jene Geſtalt hervor gebluͤht waͤre und mit ihr
ſeine entſchwundene Jugend. Nein, ſagte er nach
einiger Zeit halblaut, es iſt Wein, was hier gluͤht!
Was ſoll es anders ſeyn? ſagte der Kaufmann
lachend, trinken Sie getroſt! Ein Zucken des
Schrecks durchfuhr den Alten, er ſprach den Na-
men Franziska heftig aus, und ſetzte den Pokal
an die bruͤnſtigen Lippen. Die Mutter warf einen
fragenden und verwundernden Blick hinuͤber. Wo-
her dieſer ſchoͤne Becher? ſagte Ferdinand, der
ſich ſeiner Zerſtreuung ſchaͤmte. Vor vielen Jah-
ren ſchon, antwortete Leopold, noch ehe ich gebo-
ren war, hat ihn mein Vater zugleich mit dieſem
Hauſe und allen Mobilien von einem alten einſa-
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[452/0463] Erſte Abtheilung. kennen will, durch ſeine ungefaͤlſchte Liebe unwahr zu machen. Sie gab den Becher, ohne zu trin- ken, weiter, und die Geſellſchaft war auf einige Zeit verſtimmt. Man erzaͤhlt ſich, ſagte der Kaufmann leiſe, indem er ſich zum Fremden neigte, daß ſie ihren Mann nicht geliebt habe, ſondern einen andern, der ihr aber ungetreu geworden iſt; damals ſoll ſie das ſchoͤnſte Maͤdchen in der Stadt geweſen ſeyn. Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete ihn dieſer mit Erſtaunen, denn es war derſelbe, aus welchem ihm Albert ehemals das ſchoͤne Bild- niß hervor gerufen hatte. Er ſchaute in das Gold hinein und in die Welle des Weines, ſeine Hand zitterte; es wuͤrde ihn nicht verwundert haben, wenn aus dem leuchtenden Zaubergefaͤße jetzt wie- der jene Geſtalt hervor gebluͤht waͤre und mit ihr ſeine entſchwundene Jugend. Nein, ſagte er nach einiger Zeit halblaut, es iſt Wein, was hier gluͤht! Was ſoll es anders ſeyn? ſagte der Kaufmann lachend, trinken Sie getroſt! Ein Zucken des Schrecks durchfuhr den Alten, er ſprach den Na- men Franziska heftig aus, und ſetzte den Pokal an die bruͤnſtigen Lippen. Die Mutter warf einen fragenden und verwundernden Blick hinuͤber. Wo- her dieſer ſchoͤne Becher? ſagte Ferdinand, der ſich ſeiner Zerſtreuung ſchaͤmte. Vor vielen Jah- ren ſchon, antwortete Leopold, noch ehe ich gebo- ren war, hat ihn mein Vater zugleich mit dieſem Hauſe und allen Mobilien von einem alten einſa- men Hageſtolz gekauft, einem ſtillen Menſchen,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/463>, abgerufen am 22.05.2024.