Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Pokal.
das vertrauteste Bild meiner Imagination, das
meinem Herzen stets einheimisch gewesen.

Ich verstehe Sie, sagte der Jüngling; ja das
wahrhaft Schöne, Große und Erhabene, so wie
es uns in Erstaunen und Verwunderung setzt, über-
rascht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner-
hörtes und Niegesehenes, sondern unser eigenstes
Wesen wird uns in solchen Augenblicken klar, un-
sre tiefsten Erinnerungen werden erweckt, und un-
sre nächsten Empfindungen lebendig gemacht.

Beim Abendessen nahm der Fremde an den
Gesprächen nur wenigen Antheil; sein Blick war
unverwandt auf die Braut geheftet, so daß diese
endlich verlegen und ängstlich wurde. Der Offizier
erzählte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt
hatte, der reiche Kaufmann sprach von seinen Ge-
schäften und der schlechten Zeit, und der Gutsbe-
sitzer von den Verbesserungen, welche er in seiner
Landwirthschaft angefangen hatte.

Nach Tische empfahl sich der Bräutigam, um
zum letztenmal in seine einsame Wohnung zurück
zu kehren, denn künftig sollte er mit seiner jungen
Frau im Hause der Mutter wohnen, ihre Zim-
mer waren schon eingerichtet. Die Gesellschaft zer-
streute sich, und Leopold führte den Fremden nach
seinem Gemach. Ihr entschuldigt es wohl, fing
er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt
hausen müßt, und nicht so bequem, als die Mut-
ter wünscht; aber Ihr seht selbst, wie zahlreich
unsre Familie ist, und morgen kommen noch andre
Verwandte. Wenigstens werdet ihr uns nicht ent-

Der Pokal.
das vertrauteſte Bild meiner Imagination, das
meinem Herzen ſtets einheimiſch geweſen.

Ich verſtehe Sie, ſagte der Juͤngling; ja das
wahrhaft Schoͤne, Große und Erhabene, ſo wie
es uns in Erſtaunen und Verwunderung ſetzt, uͤber-
raſcht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner-
hoͤrtes und Niegeſehenes, ſondern unſer eigenſtes
Weſen wird uns in ſolchen Augenblicken klar, un-
ſre tiefſten Erinnerungen werden erweckt, und un-
ſre naͤchſten Empfindungen lebendig gemacht.

Beim Abendeſſen nahm der Fremde an den
Geſpraͤchen nur wenigen Antheil; ſein Blick war
unverwandt auf die Braut geheftet, ſo daß dieſe
endlich verlegen und aͤngſtlich wurde. Der Offizier
erzaͤhlte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt
hatte, der reiche Kaufmann ſprach von ſeinen Ge-
ſchaͤften und der ſchlechten Zeit, und der Gutsbe-
ſitzer von den Verbeſſerungen, welche er in ſeiner
Landwirthſchaft angefangen hatte.

Nach Tiſche empfahl ſich der Braͤutigam, um
zum letztenmal in ſeine einſame Wohnung zuruͤck
zu kehren, denn kuͤnftig ſollte er mit ſeiner jungen
Frau im Hauſe der Mutter wohnen, ihre Zim-
mer waren ſchon eingerichtet. Die Geſellſchaft zer-
ſtreute ſich, und Leopold fuͤhrte den Fremden nach
ſeinem Gemach. Ihr entſchuldigt es wohl, fing
er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt
hauſen muͤßt, und nicht ſo bequem, als die Mut-
ter wuͤnſcht; aber Ihr ſeht ſelbſt, wie zahlreich
unſre Familie iſt, und morgen kommen noch andre
Verwandte. Wenigſtens werdet ihr uns nicht ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0458" n="447"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/>
das vertraute&#x017F;te Bild meiner Imagination, das<lb/>
meinem Herzen &#x017F;tets einheimi&#x017F;ch gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Ich ver&#x017F;tehe Sie, &#x017F;agte der Ju&#x0364;ngling; ja das<lb/>
wahrhaft Scho&#x0364;ne, Große und Erhabene, &#x017F;o wie<lb/>
es uns in Er&#x017F;taunen und Verwunderung &#x017F;etzt, u&#x0364;ber-<lb/>
ra&#x017F;cht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner-<lb/>
ho&#x0364;rtes und Niege&#x017F;ehenes, &#x017F;ondern un&#x017F;er eigen&#x017F;tes<lb/>
We&#x017F;en wird uns in &#x017F;olchen Augenblicken klar, un-<lb/>
&#x017F;re tief&#x017F;ten Erinnerungen werden erweckt, und un-<lb/>
&#x017F;re na&#x0364;ch&#x017F;ten Empfindungen lebendig gemacht.</p><lb/>
          <p>Beim Abende&#x017F;&#x017F;en nahm der Fremde an den<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;chen nur wenigen Antheil; &#x017F;ein Blick war<lb/>
unverwandt auf die Braut geheftet, &#x017F;o daß die&#x017F;e<lb/>
endlich verlegen und a&#x0364;ng&#x017F;tlich wurde. Der Offizier<lb/>
erza&#x0364;hlte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt<lb/>
hatte, der reiche Kaufmann &#x017F;prach von &#x017F;einen Ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ften und der &#x017F;chlechten Zeit, und der Gutsbe-<lb/>
&#x017F;itzer von den Verbe&#x017F;&#x017F;erungen, welche er in &#x017F;einer<lb/>
Landwirth&#x017F;chaft angefangen hatte.</p><lb/>
          <p>Nach Ti&#x017F;che empfahl &#x017F;ich der Bra&#x0364;utigam, um<lb/>
zum letztenmal in &#x017F;eine ein&#x017F;ame Wohnung zuru&#x0364;ck<lb/>
zu kehren, denn ku&#x0364;nftig &#x017F;ollte er mit &#x017F;einer jungen<lb/>
Frau im Hau&#x017F;e der Mutter wohnen, ihre Zim-<lb/>
mer waren &#x017F;chon eingerichtet. Die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zer-<lb/>
&#x017F;treute &#x017F;ich, und Leopold fu&#x0364;hrte den Fremden nach<lb/>
&#x017F;einem Gemach. Ihr ent&#x017F;chuldigt es wohl, fing<lb/>
er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt<lb/>
hau&#x017F;en mu&#x0364;ßt, und nicht &#x017F;o bequem, als die Mut-<lb/>
ter wu&#x0364;n&#x017F;cht; aber Ihr &#x017F;eht &#x017F;elb&#x017F;t, wie zahlreich<lb/>
un&#x017F;re Familie i&#x017F;t, und morgen kommen noch andre<lb/>
Verwandte. Wenig&#x017F;tens werdet ihr uns nicht ent-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[447/0458] Der Pokal. das vertrauteſte Bild meiner Imagination, das meinem Herzen ſtets einheimiſch geweſen. Ich verſtehe Sie, ſagte der Juͤngling; ja das wahrhaft Schoͤne, Große und Erhabene, ſo wie es uns in Erſtaunen und Verwunderung ſetzt, uͤber- raſcht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner- hoͤrtes und Niegeſehenes, ſondern unſer eigenſtes Weſen wird uns in ſolchen Augenblicken klar, un- ſre tiefſten Erinnerungen werden erweckt, und un- ſre naͤchſten Empfindungen lebendig gemacht. Beim Abendeſſen nahm der Fremde an den Geſpraͤchen nur wenigen Antheil; ſein Blick war unverwandt auf die Braut geheftet, ſo daß dieſe endlich verlegen und aͤngſtlich wurde. Der Offizier erzaͤhlte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt hatte, der reiche Kaufmann ſprach von ſeinen Ge- ſchaͤften und der ſchlechten Zeit, und der Gutsbe- ſitzer von den Verbeſſerungen, welche er in ſeiner Landwirthſchaft angefangen hatte. Nach Tiſche empfahl ſich der Braͤutigam, um zum letztenmal in ſeine einſame Wohnung zuruͤck zu kehren, denn kuͤnftig ſollte er mit ſeiner jungen Frau im Hauſe der Mutter wohnen, ihre Zim- mer waren ſchon eingerichtet. Die Geſellſchaft zer- ſtreute ſich, und Leopold fuͤhrte den Fremden nach ſeinem Gemach. Ihr entſchuldigt es wohl, fing er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt hauſen muͤßt, und nicht ſo bequem, als die Mut- ter wuͤnſcht; aber Ihr ſeht ſelbſt, wie zahlreich unſre Familie iſt, und morgen kommen noch andre Verwandte. Wenigſtens werdet ihr uns nicht ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/458
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/458>, abgerufen am 22.11.2024.