empfangen und abgelegt hatten, entfernten sie sich, um ihren alten mürrischen Freund aufzusuchen.
Dieser wohnte die meiste Zeit des Jahres auf dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine kleine Wohnung behielt er sich auch in einem Gar- ten, vor dem Thore. Hier hatten ihn zufälliger- weise die beiden jungen Leute kennen gelernt. Sie trafen ihn jetzt auf einem Caffehause, wohin sie sich bestellt hatten. Da es schon Abend geworden war, begaben sie sich nach einigen Gesprächen in das Haus zurück.
Die Mutter nahm den Fremden sehr freund- schaftlich auf; die Töchter hielten sich etwas ent- fernt, besonders war Agathe schüchtern und ver- mied seine Blicke sorgfältig. Nach den ersten all- gemeinen Gesprächen war das Auge des Alten aber unverwandt auf die Braut gerichtet, welche später zur Gesellschaft getreten war; er schien entzückt und man bemerkte, daß er eine Thräne heimlich abzutrocknen suchte. Der Bräutigam freute sich an seiner Freude, und als sie nach einiger Zeit abseits am Fenster standen, nahm er seine Hand und fragte ihn: Was sagen Sie von meiner ge- liebten Julie? Ist sie nicht ein Engel? -- O mein Freund, erwiederte der Alte gerührt, eine solche Schönheit und Anmuth habe ich noch niemals ge- sehn; oder ich sollte vielmehr sagen, (denn dieser Ausdruck ist unrichtig) sie ist so schön, so bezau- bernd, so himmlisch, daß mir ist, als hätte ich sie längst gekannt, als wäre sie, so fremd sie mir ist,
Erſte Abtheilung.
empfangen und abgelegt hatten, entfernten ſie ſich, um ihren alten muͤrriſchen Freund aufzuſuchen.
Dieſer wohnte die meiſte Zeit des Jahres auf dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine kleine Wohnung behielt er ſich auch in einem Gar- ten, vor dem Thore. Hier hatten ihn zufaͤlliger- weiſe die beiden jungen Leute kennen gelernt. Sie trafen ihn jetzt auf einem Caffehauſe, wohin ſie ſich beſtellt hatten. Da es ſchon Abend geworden war, begaben ſie ſich nach einigen Geſpraͤchen in das Haus zuruͤck.
Die Mutter nahm den Fremden ſehr freund- ſchaftlich auf; die Toͤchter hielten ſich etwas ent- fernt, beſonders war Agathe ſchuͤchtern und ver- mied ſeine Blicke ſorgfaͤltig. Nach den erſten all- gemeinen Geſpraͤchen war das Auge des Alten aber unverwandt auf die Braut gerichtet, welche ſpaͤter zur Geſellſchaft getreten war; er ſchien entzuͤckt und man bemerkte, daß er eine Thraͤne heimlich abzutrocknen ſuchte. Der Braͤutigam freute ſich an ſeiner Freude, und als ſie nach einiger Zeit abſeits am Fenſter ſtanden, nahm er ſeine Hand und fragte ihn: Was ſagen Sie von meiner ge- liebten Julie? Iſt ſie nicht ein Engel? — O mein Freund, erwiederte der Alte geruͤhrt, eine ſolche Schoͤnheit und Anmuth habe ich noch niemals ge- ſehn; oder ich ſollte vielmehr ſagen, (denn dieſer Ausdruck iſt unrichtig) ſie iſt ſo ſchoͤn, ſo bezau- bernd, ſo himmliſch, daß mir iſt, als haͤtte ich ſie laͤngſt gekannt, als waͤre ſie, ſo fremd ſie mir iſt,
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Erſte Abtheilung.
empfangen und abgelegt hatten, entfernten ſie ſich,
um ihren alten muͤrriſchen Freund aufzuſuchen.
Dieſer wohnte die meiſte Zeit des Jahres auf
dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine
kleine Wohnung behielt er ſich auch in einem Gar-
ten, vor dem Thore. Hier hatten ihn zufaͤlliger-
weiſe die beiden jungen Leute kennen gelernt. Sie
trafen ihn jetzt auf einem Caffehauſe, wohin ſie
ſich beſtellt hatten. Da es ſchon Abend geworden
war, begaben ſie ſich nach einigen Geſpraͤchen in
das Haus zuruͤck.
Die Mutter nahm den Fremden ſehr freund-
ſchaftlich auf; die Toͤchter hielten ſich etwas ent-
fernt, beſonders war Agathe ſchuͤchtern und ver-
mied ſeine Blicke ſorgfaͤltig. Nach den erſten all-
gemeinen Geſpraͤchen war das Auge des Alten aber
unverwandt auf die Braut gerichtet, welche ſpaͤter
zur Geſellſchaft getreten war; er ſchien entzuͤckt
und man bemerkte, daß er eine Thraͤne heimlich
abzutrocknen ſuchte. Der Braͤutigam freute ſich
an ſeiner Freude, und als ſie nach einiger Zeit
abſeits am Fenſter ſtanden, nahm er ſeine Hand
und fragte ihn: Was ſagen Sie von meiner ge-
liebten Julie? Iſt ſie nicht ein Engel? — O mein
Freund, erwiederte der Alte geruͤhrt, eine ſolche
Schoͤnheit und Anmuth habe ich noch niemals ge-
ſehn; oder ich ſollte vielmehr ſagen, (denn dieſer
Ausdruck iſt unrichtig) ſie iſt ſo ſchoͤn, ſo bezau-
bernd, ſo himmliſch, daß mir iſt, als haͤtte ich ſie
laͤngſt gekannt, als waͤre ſie, ſo fremd ſie mir iſt,
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/457>, abgerufen am 22.11.2024.
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