Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Pokal.
durch eine unnütze Frage oder ein hastiges Auffah-
ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und
das Bild zertrümmert; ihr müßt mir also verspre-
chen, euch ganz ruhig zu verhalten.

Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik-
kelte aus den Tüchern das, was er mitgebracht
hatte. Es war ein goldener Pokal von sehr künst-
licher und schöner Arbeit. Um den breiten Fuß
lief ein Blumenkranz mit Myrthen und verschiede-
nem Laube und Früchten gemischt, erhaben ausge-
führt mit mattem oder klaren Golde. Ein ähn-
liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und
fliehenden wilden Thierchen, die sich vor den Kin-
dern fürchteten oder mit ihnen spielten, zog sich
um die Mitte des Bechers. Der Kelch war schön
gewunden, er bog sich oben zurück, den Lippen
entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro-
ther Gluth. Der Alte stellte den Becher zwischen
sich und den Jüngling, und winkte ihn näher.
Fühlt ihr nicht etwas, sprach er, wenn euer Auge
sich in diesem Glanz verliert? Ja, sagte Ferdi-
nand, dieser Schein spiegelt in mein Innres hin-
ein, ich möchte sagen, ich fühle ihn wie einen Kuß
in meinem sehnsüchtigen Busen. So ist es recht!
sagte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr
herum schweifen, sondern haltet sie fest auf den
Glanz dieses Goldes, und denkt so lebhaft wie
möglich an eure Geliebte.

Beide saßen eine Weile ruhig, und schauten
vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber
fuhr der Alte mit stummer Geberde, erst langsam,

Der Pokal.
durch eine unnuͤtze Frage oder ein haſtiges Auffah-
ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und
das Bild zertruͤmmert; ihr muͤßt mir alſo verſpre-
chen, euch ganz ruhig zu verhalten.

Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik-
kelte aus den Tuͤchern das, was er mitgebracht
hatte. Es war ein goldener Pokal von ſehr kuͤnſt-
licher und ſchoͤner Arbeit. Um den breiten Fuß
lief ein Blumenkranz mit Myrthen und verſchiede-
nem Laube und Fruͤchten gemiſcht, erhaben ausge-
fuͤhrt mit mattem oder klaren Golde. Ein aͤhn-
liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und
fliehenden wilden Thierchen, die ſich vor den Kin-
dern fuͤrchteten oder mit ihnen ſpielten, zog ſich
um die Mitte des Bechers. Der Kelch war ſchoͤn
gewunden, er bog ſich oben zuruͤck, den Lippen
entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro-
ther Gluth. Der Alte ſtellte den Becher zwiſchen
ſich und den Juͤngling, und winkte ihn naͤher.
Fuͤhlt ihr nicht etwas, ſprach er, wenn euer Auge
ſich in dieſem Glanz verliert? Ja, ſagte Ferdi-
nand, dieſer Schein ſpiegelt in mein Innres hin-
ein, ich moͤchte ſagen, ich fuͤhle ihn wie einen Kuß
in meinem ſehnſuͤchtigen Buſen. So iſt es recht!
ſagte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr
herum ſchweifen, ſondern haltet ſie feſt auf den
Glanz dieſes Goldes, und denkt ſo lebhaft wie
moͤglich an eure Geliebte.

Beide ſaßen eine Weile ruhig, und ſchauten
vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber
fuhr der Alte mit ſtummer Geberde, erſt langſam,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0448" n="437"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/>
durch eine unnu&#x0364;tze Frage oder ein ha&#x017F;tiges Auffah-<lb/>
ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und<lb/>
das Bild zertru&#x0364;mmert; ihr mu&#x0364;ßt mir al&#x017F;o ver&#x017F;pre-<lb/>
chen, euch ganz ruhig zu verhalten.</p><lb/>
          <p>Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik-<lb/>
kelte aus den Tu&#x0364;chern das, was er mitgebracht<lb/>
hatte. Es war ein goldener Pokal von &#x017F;ehr ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
licher und &#x017F;cho&#x0364;ner Arbeit. Um den breiten Fuß<lb/>
lief ein Blumenkranz mit Myrthen und ver&#x017F;chiede-<lb/>
nem Laube und Fru&#x0364;chten gemi&#x017F;cht, erhaben ausge-<lb/>
fu&#x0364;hrt mit mattem oder klaren Golde. Ein a&#x0364;hn-<lb/>
liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und<lb/>
fliehenden wilden Thierchen, die &#x017F;ich vor den Kin-<lb/>
dern fu&#x0364;rchteten oder mit ihnen &#x017F;pielten, zog &#x017F;ich<lb/>
um die Mitte des Bechers. Der Kelch war &#x017F;cho&#x0364;n<lb/>
gewunden, er bog &#x017F;ich oben zuru&#x0364;ck, den Lippen<lb/>
entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro-<lb/>
ther Gluth. Der Alte &#x017F;tellte den Becher zwi&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;ich und den Ju&#x0364;ngling, und winkte ihn na&#x0364;her.<lb/>
Fu&#x0364;hlt ihr nicht etwas, &#x017F;prach er, wenn euer Auge<lb/>
&#x017F;ich in die&#x017F;em Glanz verliert? Ja, &#x017F;agte Ferdi-<lb/>
nand, die&#x017F;er Schein &#x017F;piegelt in mein Innres hin-<lb/>
ein, ich mo&#x0364;chte &#x017F;agen, ich fu&#x0364;hle ihn wie einen Kuß<lb/>
in meinem &#x017F;ehn&#x017F;u&#x0364;chtigen Bu&#x017F;en. So i&#x017F;t es recht!<lb/>
&#x017F;agte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr<lb/>
herum &#x017F;chweifen, &#x017F;ondern haltet &#x017F;ie fe&#x017F;t auf den<lb/>
Glanz die&#x017F;es Goldes, und denkt &#x017F;o lebhaft wie<lb/>
mo&#x0364;glich an eure Geliebte.</p><lb/>
          <p>Beide &#x017F;aßen eine Weile ruhig, und &#x017F;chauten<lb/>
vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber<lb/>
fuhr der Alte mit &#x017F;tummer Geberde, er&#x017F;t lang&#x017F;am,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0448] Der Pokal. durch eine unnuͤtze Frage oder ein haſtiges Auffah- ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und das Bild zertruͤmmert; ihr muͤßt mir alſo verſpre- chen, euch ganz ruhig zu verhalten. Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik- kelte aus den Tuͤchern das, was er mitgebracht hatte. Es war ein goldener Pokal von ſehr kuͤnſt- licher und ſchoͤner Arbeit. Um den breiten Fuß lief ein Blumenkranz mit Myrthen und verſchiede- nem Laube und Fruͤchten gemiſcht, erhaben ausge- fuͤhrt mit mattem oder klaren Golde. Ein aͤhn- liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und fliehenden wilden Thierchen, die ſich vor den Kin- dern fuͤrchteten oder mit ihnen ſpielten, zog ſich um die Mitte des Bechers. Der Kelch war ſchoͤn gewunden, er bog ſich oben zuruͤck, den Lippen entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro- ther Gluth. Der Alte ſtellte den Becher zwiſchen ſich und den Juͤngling, und winkte ihn naͤher. Fuͤhlt ihr nicht etwas, ſprach er, wenn euer Auge ſich in dieſem Glanz verliert? Ja, ſagte Ferdi- nand, dieſer Schein ſpiegelt in mein Innres hin- ein, ich moͤchte ſagen, ich fuͤhle ihn wie einen Kuß in meinem ſehnſuͤchtigen Buſen. So iſt es recht! ſagte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr herum ſchweifen, ſondern haltet ſie feſt auf den Glanz dieſes Goldes, und denkt ſo lebhaft wie moͤglich an eure Geliebte. Beide ſaßen eine Weile ruhig, und ſchauten vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber fuhr der Alte mit ſtummer Geberde, erſt langſam,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/448
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/448>, abgerufen am 17.05.2024.