Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Elfen.
das ist ein schönes Mädchen! Wo mag sie nur her
seyn? Mit eiligeren Schritten näherte sie sich dem
elterlichen Hause, aber die Bäume, die gestern
voller Früchte hingen, standen heute dürr und
ohne Laub, das Haus war anders angestrichen, und
eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war
in Verwunderung, und dachte, sie sey im Traum:
in dieser Verwirrung öffnete sie die Thür des Hau-
ses, und hinter dem Tische saß ihr Vater zwischen
einer unbekannten Frau und einem fremden Jüng-
ling. Mein Gott, Vater! rief sie aus, wo ist
denn die Mutter? -- die Mutter? sprach die Frau
ahndend, und stürzte hervor; ei, du bist doch wohl
nicht, -- ja freilich, freilich bist du die verlorene,
die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie
hatte sie gleich an einem kleinen braunen Mahle
unter dem Kinn, an den Augen und der Gestalt
erkannt. Alle umarmten sie, alle waren freudig
bewegt, und die Eltern vergossen Thränen. Ma-
rie verwunderte sich, daß sie fast zum Vater hin-
auf reichte, sie begriff nicht, wie die Mutter so
verändert und geältert seyn konnte, sie fragte nach
dem Namen des jungen Menschen. Es ist ja un-
sers Nachbars Andres, sagte Martin, wie kommst
du nur nach sieben langen Jahren so unvermuther
wieder? Wo bist du gewesen? Warum hast du
denn gar nichts von dir hören lassen? -- Sieben
Jahr? sagte Marie, und konnte sich in ihren Vor-
stellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht
finden; sieben ganzer Jahre? Ja, ja, sagte An-
dres lachend, und schüttelte ihr treuherzig die Hand;

I. [ 27 ]

Die Elfen.
das iſt ein ſchoͤnes Maͤdchen! Wo mag ſie nur her
ſeyn? Mit eiligeren Schritten naͤherte ſie ſich dem
elterlichen Hauſe, aber die Baͤume, die geſtern
voller Fruͤchte hingen, ſtanden heute duͤrr und
ohne Laub, das Haus war anders angeſtrichen, und
eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war
in Verwunderung, und dachte, ſie ſey im Traum:
in dieſer Verwirrung oͤffnete ſie die Thuͤr des Hau-
ſes, und hinter dem Tiſche ſaß ihr Vater zwiſchen
einer unbekannten Frau und einem fremden Juͤng-
ling. Mein Gott, Vater! rief ſie aus, wo iſt
denn die Mutter? — die Mutter? ſprach die Frau
ahndend, und ſtuͤrzte hervor; ei, du biſt doch wohl
nicht, — ja freilich, freilich biſt du die verlorene,
die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie
hatte ſie gleich an einem kleinen braunen Mahle
unter dem Kinn, an den Augen und der Geſtalt
erkannt. Alle umarmten ſie, alle waren freudig
bewegt, und die Eltern vergoſſen Thraͤnen. Ma-
rie verwunderte ſich, daß ſie faſt zum Vater hin-
auf reichte, ſie begriff nicht, wie die Mutter ſo
veraͤndert und geaͤltert ſeyn konnte, ſie fragte nach
dem Namen des jungen Menſchen. Es iſt ja un-
ſers Nachbars Andres, ſagte Martin, wie kommſt
du nur nach ſieben langen Jahren ſo unvermuther
wieder? Wo biſt du geweſen? Warum haſt du
denn gar nichts von dir hoͤren laſſen? — Sieben
Jahr? ſagte Marie, und konnte ſich in ihren Vor-
ſtellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht
finden; ſieben ganzer Jahre? Ja, ja, ſagte An-
dres lachend, und ſchuͤttelte ihr treuherzig die Hand;

I. [ 27 ]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0428" n="417"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Die Elfen</hi>.</fw><lb/>
das i&#x017F;t ein &#x017F;cho&#x0364;nes Ma&#x0364;dchen! Wo mag &#x017F;ie nur her<lb/>
&#x017F;eyn? Mit eiligeren Schritten na&#x0364;herte &#x017F;ie &#x017F;ich dem<lb/>
elterlichen Hau&#x017F;e, aber die Ba&#x0364;ume, die ge&#x017F;tern<lb/>
voller Fru&#x0364;chte hingen, &#x017F;tanden heute du&#x0364;rr und<lb/>
ohne Laub, das Haus war anders ange&#x017F;trichen, und<lb/>
eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war<lb/>
in Verwunderung, und dachte, &#x017F;ie &#x017F;ey im Traum:<lb/>
in die&#x017F;er Verwirrung o&#x0364;ffnete &#x017F;ie die Thu&#x0364;r des Hau-<lb/>
&#x017F;es, und hinter dem Ti&#x017F;che &#x017F;aß ihr Vater zwi&#x017F;chen<lb/>
einer unbekannten Frau und einem fremden Ju&#x0364;ng-<lb/>
ling. Mein Gott, Vater! rief &#x017F;ie aus, wo i&#x017F;t<lb/>
denn die Mutter? &#x2014; die Mutter? &#x017F;prach die Frau<lb/>
ahndend, und &#x017F;tu&#x0364;rzte hervor; ei, du bi&#x017F;t doch wohl<lb/>
nicht, &#x2014; ja freilich, freilich bi&#x017F;t du die verlorene,<lb/>
die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie<lb/>
hatte &#x017F;ie gleich an einem kleinen braunen Mahle<lb/>
unter dem Kinn, an den Augen und der Ge&#x017F;talt<lb/>
erkannt. Alle umarmten &#x017F;ie, alle waren freudig<lb/>
bewegt, und die Eltern vergo&#x017F;&#x017F;en Thra&#x0364;nen. Ma-<lb/>
rie verwunderte &#x017F;ich, daß &#x017F;ie fa&#x017F;t zum Vater hin-<lb/>
auf reichte, &#x017F;ie begriff nicht, wie die Mutter &#x017F;o<lb/>
vera&#x0364;ndert und gea&#x0364;ltert &#x017F;eyn konnte, &#x017F;ie fragte nach<lb/>
dem Namen des jungen Men&#x017F;chen. Es i&#x017F;t ja un-<lb/>
&#x017F;ers Nachbars Andres, &#x017F;agte Martin, wie komm&#x017F;t<lb/>
du nur nach &#x017F;ieben langen Jahren &#x017F;o unvermuther<lb/>
wieder? Wo bi&#x017F;t du gewe&#x017F;en? Warum ha&#x017F;t du<lb/>
denn gar nichts von dir ho&#x0364;ren la&#x017F;&#x017F;en? &#x2014; Sieben<lb/>
Jahr? &#x017F;agte Marie, und konnte &#x017F;ich in ihren Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht<lb/>
finden; &#x017F;ieben ganzer Jahre? Ja, ja, &#x017F;agte An-<lb/>
dres lachend, und &#x017F;chu&#x0364;ttelte ihr treuherzig die Hand;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">I. [ 27 ]</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[417/0428] Die Elfen. das iſt ein ſchoͤnes Maͤdchen! Wo mag ſie nur her ſeyn? Mit eiligeren Schritten naͤherte ſie ſich dem elterlichen Hauſe, aber die Baͤume, die geſtern voller Fruͤchte hingen, ſtanden heute duͤrr und ohne Laub, das Haus war anders angeſtrichen, und eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war in Verwunderung, und dachte, ſie ſey im Traum: in dieſer Verwirrung oͤffnete ſie die Thuͤr des Hau- ſes, und hinter dem Tiſche ſaß ihr Vater zwiſchen einer unbekannten Frau und einem fremden Juͤng- ling. Mein Gott, Vater! rief ſie aus, wo iſt denn die Mutter? — die Mutter? ſprach die Frau ahndend, und ſtuͤrzte hervor; ei, du biſt doch wohl nicht, — ja freilich, freilich biſt du die verlorene, die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie hatte ſie gleich an einem kleinen braunen Mahle unter dem Kinn, an den Augen und der Geſtalt erkannt. Alle umarmten ſie, alle waren freudig bewegt, und die Eltern vergoſſen Thraͤnen. Ma- rie verwunderte ſich, daß ſie faſt zum Vater hin- auf reichte, ſie begriff nicht, wie die Mutter ſo veraͤndert und geaͤltert ſeyn konnte, ſie fragte nach dem Namen des jungen Menſchen. Es iſt ja un- ſers Nachbars Andres, ſagte Martin, wie kommſt du nur nach ſieben langen Jahren ſo unvermuther wieder? Wo biſt du geweſen? Warum haſt du denn gar nichts von dir hoͤren laſſen? — Sieben Jahr? ſagte Marie, und konnte ſich in ihren Vor- ſtellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht finden; ſieben ganzer Jahre? Ja, ja, ſagte An- dres lachend, und ſchuͤttelte ihr treuherzig die Hand; I. [ 27 ]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/428
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/428>, abgerufen am 17.05.2024.