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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
du mußt uns verlassen, mein geliebtes Kind, sagte
sie; der König will auf zwanzig Jahr, und viel-
leicht auf länger, sein Hoflager hier halten, nun
wird sich Fruchtbarkeit und Seegen weit in die
Landschaft verbreiten, am meisten hier in der Nähe;
alle Brunnen und Bäche werden ergiebiger, alle
Aecker und Gärten reicher, der Wein edler, die
Wiese fetter und der Wald frischer und grüner;
mildere Luft weht, kein Hagel schadet, keine Ue-
berschwemmung droht. Nimm diesen Ring und
gedenke unser, doch hüte dich, irgend wem von uns
zu erzählen, sonst müssen wir diese Gegend fliehen,
und alle umher so wie du selbst entbehren dann
das Glück und die Seegnung unsrer Nähe: noch
einmal küsse deine Gespielin und lebe wohl. Sie
traten heraus, Zerina weinte, Marie bückte sich,
sie zu umarmen, sie trennten sich. Schon stand
sie auf der schmalen Brücke, die kalte Luft wehte
hinter ihr aus den Tannen, das Hündchen bellte
auf das herzhafteste und ließ sein Glöckchen ertö-
nen; sie sah zurück und eilte in das Freie, weil
die Dunkelheit der Tannen, die Schwärze der ver-
fallenen Hütten, die dämmernden Schatten sie mit
ängstlicher Furcht befielen.

Wie werden sich meine Eltern meinethalb in
dieser Nacht geängstigt haben! sagte sie zu sich
selbst, als sie auf dem Felde stand, und ich darf
ihnen doch nicht erzählen, wo ich gewesen bin und
was ich gesehn habe, auch würden sie mir nimmer-
mehr glauben. Zwei Männer gingen an ihr vor-
über, die sie grüßten, und sie hörte hinter sich sagen:

das

Erſte Abtheilung.
du mußt uns verlaſſen, mein geliebtes Kind, ſagte
ſie; der Koͤnig will auf zwanzig Jahr, und viel-
leicht auf laͤnger, ſein Hoflager hier halten, nun
wird ſich Fruchtbarkeit und Seegen weit in die
Landſchaft verbreiten, am meiſten hier in der Naͤhe;
alle Brunnen und Baͤche werden ergiebiger, alle
Aecker und Gaͤrten reicher, der Wein edler, die
Wieſe fetter und der Wald friſcher und gruͤner;
mildere Luft weht, kein Hagel ſchadet, keine Ue-
berſchwemmung droht. Nimm dieſen Ring und
gedenke unſer, doch huͤte dich, irgend wem von uns
zu erzaͤhlen, ſonſt muͤſſen wir dieſe Gegend fliehen,
und alle umher ſo wie du ſelbſt entbehren dann
das Gluͤck und die Seegnung unſrer Naͤhe: noch
einmal kuͤſſe deine Geſpielin und lebe wohl. Sie
traten heraus, Zerina weinte, Marie buͤckte ſich,
ſie zu umarmen, ſie trennten ſich. Schon ſtand
ſie auf der ſchmalen Bruͤcke, die kalte Luft wehte
hinter ihr aus den Tannen, das Huͤndchen bellte
auf das herzhafteſte und ließ ſein Gloͤckchen ertoͤ-
nen; ſie ſah zuruͤck und eilte in das Freie, weil
die Dunkelheit der Tannen, die Schwaͤrze der ver-
fallenen Huͤtten, die daͤmmernden Schatten ſie mit
aͤngſtlicher Furcht befielen.

Wie werden ſich meine Eltern meinethalb in
dieſer Nacht geaͤngſtigt haben! ſagte ſie zu ſich
ſelbſt, als ſie auf dem Felde ſtand, und ich darf
ihnen doch nicht erzaͤhlen, wo ich geweſen bin und
was ich geſehn habe, auch wuͤrden ſie mir nimmer-
mehr glauben. Zwei Maͤnner gingen an ihr vor-
uͤber, die ſie gruͤßten, und ſie hoͤrte hinter ſich ſagen:

das
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[416/0427] Erſte Abtheilung. du mußt uns verlaſſen, mein geliebtes Kind, ſagte ſie; der Koͤnig will auf zwanzig Jahr, und viel- leicht auf laͤnger, ſein Hoflager hier halten, nun wird ſich Fruchtbarkeit und Seegen weit in die Landſchaft verbreiten, am meiſten hier in der Naͤhe; alle Brunnen und Baͤche werden ergiebiger, alle Aecker und Gaͤrten reicher, der Wein edler, die Wieſe fetter und der Wald friſcher und gruͤner; mildere Luft weht, kein Hagel ſchadet, keine Ue- berſchwemmung droht. Nimm dieſen Ring und gedenke unſer, doch huͤte dich, irgend wem von uns zu erzaͤhlen, ſonſt muͤſſen wir dieſe Gegend fliehen, und alle umher ſo wie du ſelbſt entbehren dann das Gluͤck und die Seegnung unſrer Naͤhe: noch einmal kuͤſſe deine Geſpielin und lebe wohl. Sie traten heraus, Zerina weinte, Marie buͤckte ſich, ſie zu umarmen, ſie trennten ſich. Schon ſtand ſie auf der ſchmalen Bruͤcke, die kalte Luft wehte hinter ihr aus den Tannen, das Huͤndchen bellte auf das herzhafteſte und ließ ſein Gloͤckchen ertoͤ- nen; ſie ſah zuruͤck und eilte in das Freie, weil die Dunkelheit der Tannen, die Schwaͤrze der ver- fallenen Huͤtten, die daͤmmernden Schatten ſie mit aͤngſtlicher Furcht befielen. Wie werden ſich meine Eltern meinethalb in dieſer Nacht geaͤngſtigt haben! ſagte ſie zu ſich ſelbſt, als ſie auf dem Felde ſtand, und ich darf ihnen doch nicht erzaͤhlen, wo ich geweſen bin und was ich geſehn habe, auch wuͤrden ſie mir nimmer- mehr glauben. Zwei Maͤnner gingen an ihr vor- uͤber, die ſie gruͤßten, und ſie hoͤrte hinter ſich ſagen: das

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/427>, abgerufen am 22.11.2024.