Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Elfen.
Thür und schwang sich in den lichten Himmel, wo
er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er-
glänzte und sich den Augen dann schnell verlor.

Warum seid ihr alle so in Freude? fragte
Marie, und neigte sich zum schönen Kinde, das
ihr kleiner als gestern vorkam. Der König kommt!
sagte die Kleine, den haben viele von uns noch
gar nicht gesehn, und wo er sich hinwendet ist
Glück und Fröhlichkeit; wir haben schon lange auf
ihn gehofft, sehnlicher, als ihr nach langem Win-
ter auf den Frühling wartet, und nun hat er durch
diesen schönen Bothschafter seine Ankunft melden
lassen. Dieser herrliche und verständige Vogel, der
im Dienst des Königes gesandt wird, heißt Phö-
nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum,
der nur einmal in der Welt ist, so wie es auch
keinen zweiten Phönix giebt. Wenn er sich alt
fühlt, trägt er aus Balsam und Weihrauch ein
Nest zusammen, zündet es an und verbrennt sich
selbst, so stirbt er singend, und aus der duftenden
Asche schwingt sich dann der verjüngte Phönix mit
neuer Schönheit wieder auf. Selten nur nimmt
er seinen Flug so, daß ihn die Menschen sehn,
und geschieht es einmal in Jahrhunderten, so zeich-
nen sie es in ihre Denkbücher auf, und erwar-
ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine
Freundin, wirst du auch scheiden müssen, denn der
Anblick des Königes ist dir nicht vergönnt.

Da wandelte die goldbekleidete schöne Frau
durch das Gedränge, winkte Marien zu sich und
ging mit ihr unter einen einsamen Laubengang;

Die Elfen.
Thuͤr und ſchwang ſich in den lichten Himmel, wo
er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er-
glaͤnzte und ſich den Augen dann ſchnell verlor.

Warum ſeid ihr alle ſo in Freude? fragte
Marie, und neigte ſich zum ſchoͤnen Kinde, das
ihr kleiner als geſtern vorkam. Der Koͤnig kommt!
ſagte die Kleine, den haben viele von uns noch
gar nicht geſehn, und wo er ſich hinwendet iſt
Gluͤck und Froͤhlichkeit; wir haben ſchon lange auf
ihn gehofft, ſehnlicher, als ihr nach langem Win-
ter auf den Fruͤhling wartet, und nun hat er durch
dieſen ſchoͤnen Bothſchafter ſeine Ankunft melden
laſſen. Dieſer herrliche und verſtaͤndige Vogel, der
im Dienſt des Koͤniges geſandt wird, heißt Phoͤ-
nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum,
der nur einmal in der Welt iſt, ſo wie es auch
keinen zweiten Phoͤnix giebt. Wenn er ſich alt
fuͤhlt, traͤgt er aus Balſam und Weihrauch ein
Neſt zuſammen, zuͤndet es an und verbrennt ſich
ſelbſt, ſo ſtirbt er ſingend, und aus der duftenden
Aſche ſchwingt ſich dann der verjuͤngte Phoͤnix mit
neuer Schoͤnheit wieder auf. Selten nur nimmt
er ſeinen Flug ſo, daß ihn die Menſchen ſehn,
und geſchieht es einmal in Jahrhunderten, ſo zeich-
nen ſie es in ihre Denkbuͤcher auf, und erwar-
ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine
Freundin, wirſt du auch ſcheiden muͤſſen, denn der
Anblick des Koͤniges iſt dir nicht vergoͤnnt.

Da wandelte die goldbekleidete ſchoͤne Frau
durch das Gedraͤnge, winkte Marien zu ſich und
ging mit ihr unter einen einſamen Laubengang;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0426" n="415"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Die Elfen</hi>.</fw><lb/>
Thu&#x0364;r und &#x017F;chwang &#x017F;ich in den lichten Himmel, wo<lb/>
er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er-<lb/>
gla&#x0364;nzte und &#x017F;ich den Augen dann &#x017F;chnell verlor.</p><lb/>
          <p>Warum &#x017F;eid ihr alle &#x017F;o in Freude? fragte<lb/>
Marie, und neigte &#x017F;ich zum &#x017F;cho&#x0364;nen Kinde, das<lb/>
ihr kleiner als ge&#x017F;tern vorkam. Der Ko&#x0364;nig kommt!<lb/>
&#x017F;agte die Kleine, den haben viele von uns noch<lb/>
gar nicht ge&#x017F;ehn, und wo er &#x017F;ich hinwendet i&#x017F;t<lb/>
Glu&#x0364;ck und Fro&#x0364;hlichkeit; wir haben &#x017F;chon lange auf<lb/>
ihn gehofft, &#x017F;ehnlicher, als ihr nach langem Win-<lb/>
ter auf den Fru&#x0364;hling wartet, und nun hat er durch<lb/>
die&#x017F;en &#x017F;cho&#x0364;nen Both&#x017F;chafter &#x017F;eine Ankunft melden<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;er herrliche und ver&#x017F;ta&#x0364;ndige Vogel, der<lb/>
im Dien&#x017F;t des Ko&#x0364;niges ge&#x017F;andt wird, heißt Pho&#x0364;-<lb/>
nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum,<lb/>
der nur einmal in der Welt i&#x017F;t, &#x017F;o wie es auch<lb/>
keinen zweiten Pho&#x0364;nix giebt. Wenn er &#x017F;ich alt<lb/>
fu&#x0364;hlt, tra&#x0364;gt er aus Bal&#x017F;am und Weihrauch ein<lb/>
Ne&#x017F;t zu&#x017F;ammen, zu&#x0364;ndet es an und verbrennt &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;tirbt er &#x017F;ingend, und aus der duftenden<lb/>
A&#x017F;che &#x017F;chwingt &#x017F;ich dann der verju&#x0364;ngte Pho&#x0364;nix mit<lb/>
neuer Scho&#x0364;nheit wieder auf. Selten nur nimmt<lb/>
er &#x017F;einen Flug &#x017F;o, daß ihn die Men&#x017F;chen &#x017F;ehn,<lb/>
und ge&#x017F;chieht es einmal in Jahrhunderten, &#x017F;o zeich-<lb/>
nen &#x017F;ie es in ihre Denkbu&#x0364;cher auf, und erwar-<lb/>
ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine<lb/>
Freundin, wir&#x017F;t du auch &#x017F;cheiden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, denn der<lb/>
Anblick des Ko&#x0364;niges i&#x017F;t dir nicht vergo&#x0364;nnt.</p><lb/>
          <p>Da wandelte die goldbekleidete &#x017F;cho&#x0364;ne Frau<lb/>
durch das Gedra&#x0364;nge, winkte Marien zu &#x017F;ich und<lb/>
ging mit ihr unter einen ein&#x017F;amen Laubengang;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[415/0426] Die Elfen. Thuͤr und ſchwang ſich in den lichten Himmel, wo er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er- glaͤnzte und ſich den Augen dann ſchnell verlor. Warum ſeid ihr alle ſo in Freude? fragte Marie, und neigte ſich zum ſchoͤnen Kinde, das ihr kleiner als geſtern vorkam. Der Koͤnig kommt! ſagte die Kleine, den haben viele von uns noch gar nicht geſehn, und wo er ſich hinwendet iſt Gluͤck und Froͤhlichkeit; wir haben ſchon lange auf ihn gehofft, ſehnlicher, als ihr nach langem Win- ter auf den Fruͤhling wartet, und nun hat er durch dieſen ſchoͤnen Bothſchafter ſeine Ankunft melden laſſen. Dieſer herrliche und verſtaͤndige Vogel, der im Dienſt des Koͤniges geſandt wird, heißt Phoͤ- nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum, der nur einmal in der Welt iſt, ſo wie es auch keinen zweiten Phoͤnix giebt. Wenn er ſich alt fuͤhlt, traͤgt er aus Balſam und Weihrauch ein Neſt zuſammen, zuͤndet es an und verbrennt ſich ſelbſt, ſo ſtirbt er ſingend, und aus der duftenden Aſche ſchwingt ſich dann der verjuͤngte Phoͤnix mit neuer Schoͤnheit wieder auf. Selten nur nimmt er ſeinen Flug ſo, daß ihn die Menſchen ſehn, und geſchieht es einmal in Jahrhunderten, ſo zeich- nen ſie es in ihre Denkbuͤcher auf, und erwar- ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine Freundin, wirſt du auch ſcheiden muͤſſen, denn der Anblick des Koͤniges iſt dir nicht vergoͤnnt. Da wandelte die goldbekleidete ſchoͤne Frau durch das Gedraͤnge, winkte Marien zu ſich und ging mit ihr unter einen einſamen Laubengang;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/426
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/426>, abgerufen am 17.05.2024.