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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
ungeübten Auge sogar scheint, als sey eine gute
Novelle im Drama nur verdorben worden. Nicht
selten hat man Shakspears Lustspiele so angesehn
und beurtheilt. Häufig aber, wenn wir vom
Dramatischen sprechen, verwechseln wir dieses
mit dem Theatralischen, und wiederum ein mög-
liches besseres Theater mit unserm gegenwärtigen
und seiner ungeschickten Form; und in dieser
Verwirrung verwerfen wir viele Gegenstände
und Gedichte als unschicklich, weil sie sich frei-
lich auf unsrer Bühne nicht ausnehmen würden.
Sehn wir also ein, daß ein neues Element erst
das dramatische Werk als ein solches beurkun-
det, so ist wohl ohne Zweifel eine Art der Poe-
sie erlaubt, welche auch das beste Theater nicht
brauchen kann, sondern in der Phantasie eine
Bühne für die Phantasie erbaut, und Compo-
sitionen versucht, die vielleicht zugleich lyrisch,
episch und dramatisch sind, die einen Umfang
gewinnen, welcher gewissermaßen dem Roman un-
tersagt ist, und sich Kühnheiten aneignen, die kei-
nem andern dramatischen Gedichte ziemen. Diese
Bühne der Phantasie eröffnet der romantischen
Dichtkunst ein großes Feld, und auf ihr dürfte
diese Magelone und manche alte anmuthige Tra-
dition sich wohl zu zeigen wagen.

Ernst sagte hierauf: unter den gelehrten Ita-
liänern ist es eine alte hergebrachte Meinung, daß
diese Geschichte, so wie wir sie jetzt als Volks-
buch besitzen, die früheste Uebung des Petrarka

Erſte Abtheilung.
ungeuͤbten Auge ſogar ſcheint, als ſey eine gute
Novelle im Drama nur verdorben worden. Nicht
ſelten hat man Shakſpears Luſtſpiele ſo angeſehn
und beurtheilt. Haͤufig aber, wenn wir vom
Dramatiſchen ſprechen, verwechſeln wir dieſes
mit dem Theatraliſchen, und wiederum ein moͤg-
liches beſſeres Theater mit unſerm gegenwaͤrtigen
und ſeiner ungeſchickten Form; und in dieſer
Verwirrung verwerfen wir viele Gegenſtaͤnde
und Gedichte als unſchicklich, weil ſie ſich frei-
lich auf unſrer Buͤhne nicht ausnehmen wuͤrden.
Sehn wir alſo ein, daß ein neues Element erſt
das dramatiſche Werk als ein ſolches beurkun-
det, ſo iſt wohl ohne Zweifel eine Art der Poe-
ſie erlaubt, welche auch das beſte Theater nicht
brauchen kann, ſondern in der Phantaſie eine
Buͤhne fuͤr die Phantaſie erbaut, und Compo-
ſitionen verſucht, die vielleicht zugleich lyriſch,
epiſch und dramatiſch ſind, die einen Umfang
gewinnen, welcher gewiſſermaßen dem Roman un-
terſagt iſt, und ſich Kuͤhnheiten aneignen, die kei-
nem andern dramatiſchen Gedichte ziemen. Dieſe
Buͤhne der Phantaſie eroͤffnet der romantiſchen
Dichtkunſt ein großes Feld, und auf ihr duͤrfte
dieſe Magelone und manche alte anmuthige Tra-
dition ſich wohl zu zeigen wagen.

Ernſt ſagte hierauf: unter den gelehrten Ita-
liaͤnern iſt es eine alte hergebrachte Meinung, daß
dieſe Geſchichte, ſo wie wir ſie jetzt als Volks-
buch beſitzen, die fruͤheſte Uebung des Petrarka

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[396/0407] Erſte Abtheilung. ungeuͤbten Auge ſogar ſcheint, als ſey eine gute Novelle im Drama nur verdorben worden. Nicht ſelten hat man Shakſpears Luſtſpiele ſo angeſehn und beurtheilt. Haͤufig aber, wenn wir vom Dramatiſchen ſprechen, verwechſeln wir dieſes mit dem Theatraliſchen, und wiederum ein moͤg- liches beſſeres Theater mit unſerm gegenwaͤrtigen und ſeiner ungeſchickten Form; und in dieſer Verwirrung verwerfen wir viele Gegenſtaͤnde und Gedichte als unſchicklich, weil ſie ſich frei- lich auf unſrer Buͤhne nicht ausnehmen wuͤrden. Sehn wir alſo ein, daß ein neues Element erſt das dramatiſche Werk als ein ſolches beurkun- det, ſo iſt wohl ohne Zweifel eine Art der Poe- ſie erlaubt, welche auch das beſte Theater nicht brauchen kann, ſondern in der Phantaſie eine Buͤhne fuͤr die Phantaſie erbaut, und Compo- ſitionen verſucht, die vielleicht zugleich lyriſch, epiſch und dramatiſch ſind, die einen Umfang gewinnen, welcher gewiſſermaßen dem Roman un- terſagt iſt, und ſich Kuͤhnheiten aneignen, die kei- nem andern dramatiſchen Gedichte ziemen. Dieſe Buͤhne der Phantaſie eroͤffnet der romantiſchen Dichtkunſt ein großes Feld, und auf ihr duͤrfte dieſe Magelone und manche alte anmuthige Tra- dition ſich wohl zu zeigen wagen. Ernſt ſagte hierauf: unter den gelehrten Ita- liaͤnern iſt es eine alte hergebrachte Meinung, daß dieſe Geſchichte, ſo wie wir ſie jetzt als Volks- buch beſitzen, die fruͤheſte Uebung des Petrarka

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/407>, abgerufen am 22.11.2024.