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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Sie hatten zwischen sich das kleine liebliche Kind,
welches weinte und sich an die Schöne bittend
schmiegte, die nicht zu ihm hernieder sah. Das
Kindlein hielt flehend die Händchen empor, strei-
chelte Hals und Wange der blassen Schönen. Sie
aber hielt es fest am Haar und mit der andern
Hand ein silbernes Becken; die Alte zuckte mur-
melnd das Messer und durchschnitt den weißen
Hals der Kleinen. Da wand sich hinter ihnen
etwas hervor, das beide nicht zu sehen schienen,
sonst hätten sie sich wohl eben so inniglich wie
Emil entsetzt. Ein scheußlicher Drachenhals wälzte
sich schuppig länger und länger aus der Dunkel-
heit, neigte sich über das Kind hin, das mit auf-
gelösten Gliedern der Alten in den Armen hing,
die schwarze Zunge leckte vom sprudelnden rothen
Blut, und ein grün funkelndes Auge traf durch
die Spalte hinüber in Emils Blick und Gehirn
und Herz, daß er im selben Augenblick zu Boden
stürzte.

Leblos traf ihn Roderich nach einigen Stunden.



Am heitersten Sommermorgen saß in grüner
Laube eine Gesellschaft von Freunden um ein schmack-
haftes Frühstück versammelt. Man lachte und
scherzte, alle stießen freudig oft mit den Gläsern
auf die Gesundheit des jungen Brautpaares an,
und wünschten ihm Heil und Glück. Bräutigam
und Braut waren nicht zugegen, denn die Schöne

Erſte Abtheilung.
Sie hatten zwiſchen ſich das kleine liebliche Kind,
welches weinte und ſich an die Schoͤne bittend
ſchmiegte, die nicht zu ihm hernieder ſah. Das
Kindlein hielt flehend die Haͤndchen empor, ſtrei-
chelte Hals und Wange der blaſſen Schoͤnen. Sie
aber hielt es feſt am Haar und mit der andern
Hand ein ſilbernes Becken; die Alte zuckte mur-
melnd das Meſſer und durchſchnitt den weißen
Hals der Kleinen. Da wand ſich hinter ihnen
etwas hervor, das beide nicht zu ſehen ſchienen,
ſonſt haͤtten ſie ſich wohl eben ſo inniglich wie
Emil entſetzt. Ein ſcheußlicher Drachenhals waͤlzte
ſich ſchuppig laͤnger und laͤnger aus der Dunkel-
heit, neigte ſich uͤber das Kind hin, das mit auf-
geloͤſten Gliedern der Alten in den Armen hing,
die ſchwarze Zunge leckte vom ſprudelnden rothen
Blut, und ein gruͤn funkelndes Auge traf durch
die Spalte hinuͤber in Emils Blick und Gehirn
und Herz, daß er im ſelben Augenblick zu Boden
ſtuͤrzte.

Leblos traf ihn Roderich nach einigen Stunden.



Am heiterſten Sommermorgen ſaß in gruͤner
Laube eine Geſellſchaft von Freunden um ein ſchmack-
haftes Fruͤhſtuͤck verſammelt. Man lachte und
ſcherzte, alle ſtießen freudig oft mit den Glaͤſern
auf die Geſundheit des jungen Brautpaares an,
und wuͤnſchten ihm Heil und Gluͤck. Braͤutigam
und Braut waren nicht zugegen, denn die Schoͤne

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[296/0307] Erſte Abtheilung. Sie hatten zwiſchen ſich das kleine liebliche Kind, welches weinte und ſich an die Schoͤne bittend ſchmiegte, die nicht zu ihm hernieder ſah. Das Kindlein hielt flehend die Haͤndchen empor, ſtrei- chelte Hals und Wange der blaſſen Schoͤnen. Sie aber hielt es feſt am Haar und mit der andern Hand ein ſilbernes Becken; die Alte zuckte mur- melnd das Meſſer und durchſchnitt den weißen Hals der Kleinen. Da wand ſich hinter ihnen etwas hervor, das beide nicht zu ſehen ſchienen, ſonſt haͤtten ſie ſich wohl eben ſo inniglich wie Emil entſetzt. Ein ſcheußlicher Drachenhals waͤlzte ſich ſchuppig laͤnger und laͤnger aus der Dunkel- heit, neigte ſich uͤber das Kind hin, das mit auf- geloͤſten Gliedern der Alten in den Armen hing, die ſchwarze Zunge leckte vom ſprudelnden rothen Blut, und ein gruͤn funkelndes Auge traf durch die Spalte hinuͤber in Emils Blick und Gehirn und Herz, daß er im ſelben Augenblick zu Boden ſtuͤrzte. Leblos traf ihn Roderich nach einigen Stunden. Am heiterſten Sommermorgen ſaß in gruͤner Laube eine Geſellſchaft von Freunden um ein ſchmack- haftes Fruͤhſtuͤck verſammelt. Man lachte und ſcherzte, alle ſtießen freudig oft mit den Glaͤſern auf die Geſundheit des jungen Brautpaares an, und wuͤnſchten ihm Heil und Gluͤck. Braͤutigam und Braut waren nicht zugegen, denn die Schoͤne

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/307>, abgerufen am 22.11.2024.