Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. bensweise könne gemacht haben, um auch einmaldie Welt und ihre Zerstreuungen zu genießen. Die Gassen waren hell erleuchtet, der Schnee knisterte unter seinen Füßen, Wagen rollten ihm vorüber, und Masken in den verschiedensten Trachten pfif- fen und zwitscherten an ihm vorbei. Aus vielen Häusern ertönte die ihm so verhaßte Tanzmusik, und er konnte es nicht über sich gewinnen, auf dem kürzesten Wege nach dem Saale zu gehn, zu welchem aus allen Richtungen die Menschen ström- ten und drängten. Er ging um die alte Kirche, beschaute den hohen Thurm, der sich ernst in den nächtlichen Himmel erhub, und freute sich der Stille und Einsamkeit des abgelegenen Platzes. In der Vertiefung einer großen Kirchenthür, deren man- nichfaltiges Bildwerk er immer mit Lust beschaut und sich dabei der alten Kunst und vergangener Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz, um sich auf wenige Augenblicke seinen Betrachtun- gen zu überlassen. Er stand nicht lange, als eine Figur seine Aufmerksamkeit an sich zog, die unru- hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten schien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem Marienbilde brannte, unterschied er genau das Ge- sicht, so wie die wunderliche Kleidung. Es war ein altes Weib von der äußersten Häßlichkeit, die um so mehr in die Augen fiel, weil sie gegen ein scharlachrothes Leibchen, das mit Gold besetzt war, höchst abentheuerlich abstach; der Rock, den sie trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes glänzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs Erſte Abtheilung. bensweiſe koͤnne gemacht haben, um auch einmaldie Welt und ihre Zerſtreuungen zu genießen. Die Gaſſen waren hell erleuchtet, der Schnee kniſterte unter ſeinen Fuͤßen, Wagen rollten ihm voruͤber, und Masken in den verſchiedenſten Trachten pfif- fen und zwitſcherten an ihm vorbei. Aus vielen Haͤuſern ertoͤnte die ihm ſo verhaßte Tanzmuſik, und er konnte es nicht uͤber ſich gewinnen, auf dem kuͤrzeſten Wege nach dem Saale zu gehn, zu welchem aus allen Richtungen die Menſchen ſtroͤm- ten und draͤngten. Er ging um die alte Kirche, beſchaute den hohen Thurm, der ſich ernſt in den naͤchtlichen Himmel erhub, und freute ſich der Stille und Einſamkeit des abgelegenen Platzes. In der Vertiefung einer großen Kirchenthuͤr, deren man- nichfaltiges Bildwerk er immer mit Luſt beſchaut und ſich dabei der alten Kunſt und vergangener Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz, um ſich auf wenige Augenblicke ſeinen Betrachtun- gen zu uͤberlaſſen. Er ſtand nicht lange, als eine Figur ſeine Aufmerkſamkeit an ſich zog, die unru- hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten ſchien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem Marienbilde brannte, unterſchied er genau das Ge- ſicht, ſo wie die wunderliche Kleidung. Es war ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit, die um ſo mehr in die Augen fiel, weil ſie gegen ein ſcharlachrothes Leibchen, das mit Gold beſetzt war, hoͤchſt abentheuerlich abſtach; der Rock, den ſie trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes glaͤnzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0295" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/> bensweiſe koͤnne gemacht haben, um auch einmal<lb/> die Welt und ihre Zerſtreuungen zu genießen. Die<lb/> Gaſſen waren hell erleuchtet, der Schnee kniſterte<lb/> unter ſeinen Fuͤßen, Wagen rollten ihm voruͤber,<lb/> und Masken in den verſchiedenſten Trachten pfif-<lb/> fen und zwitſcherten an ihm vorbei. Aus vielen<lb/> Haͤuſern ertoͤnte die ihm ſo verhaßte Tanzmuſik,<lb/> und er konnte es nicht uͤber ſich gewinnen, auf<lb/> dem kuͤrzeſten Wege nach dem Saale zu gehn, zu<lb/> welchem aus allen Richtungen die Menſchen ſtroͤm-<lb/> ten und draͤngten. Er ging um die alte Kirche,<lb/> beſchaute den hohen Thurm, der ſich ernſt in den<lb/> naͤchtlichen Himmel erhub, und freute ſich der Stille<lb/> und Einſamkeit des abgelegenen Platzes. In der<lb/> Vertiefung einer großen Kirchenthuͤr, deren man-<lb/> nichfaltiges Bildwerk er immer mit Luſt beſchaut<lb/> und ſich dabei der alten Kunſt und vergangener<lb/> Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz,<lb/> um ſich auf wenige Augenblicke ſeinen Betrachtun-<lb/> gen zu uͤberlaſſen. Er ſtand nicht lange, als eine<lb/> Figur ſeine Aufmerkſamkeit an ſich zog, die unru-<lb/> hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten<lb/> ſchien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem<lb/> Marienbilde brannte, unterſchied er genau das Ge-<lb/> ſicht, ſo wie die wunderliche Kleidung. Es war<lb/> ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit, die<lb/> um ſo mehr in die Augen fiel, weil ſie gegen ein<lb/> ſcharlachrothes Leibchen, das mit Gold beſetzt war,<lb/> hoͤchſt abentheuerlich abſtach; der Rock, den ſie<lb/> trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes<lb/> glaͤnzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [284/0295]
Erſte Abtheilung.
bensweiſe koͤnne gemacht haben, um auch einmal
die Welt und ihre Zerſtreuungen zu genießen. Die
Gaſſen waren hell erleuchtet, der Schnee kniſterte
unter ſeinen Fuͤßen, Wagen rollten ihm voruͤber,
und Masken in den verſchiedenſten Trachten pfif-
fen und zwitſcherten an ihm vorbei. Aus vielen
Haͤuſern ertoͤnte die ihm ſo verhaßte Tanzmuſik,
und er konnte es nicht uͤber ſich gewinnen, auf
dem kuͤrzeſten Wege nach dem Saale zu gehn, zu
welchem aus allen Richtungen die Menſchen ſtroͤm-
ten und draͤngten. Er ging um die alte Kirche,
beſchaute den hohen Thurm, der ſich ernſt in den
naͤchtlichen Himmel erhub, und freute ſich der Stille
und Einſamkeit des abgelegenen Platzes. In der
Vertiefung einer großen Kirchenthuͤr, deren man-
nichfaltiges Bildwerk er immer mit Luſt beſchaut
und ſich dabei der alten Kunſt und vergangener
Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz,
um ſich auf wenige Augenblicke ſeinen Betrachtun-
gen zu uͤberlaſſen. Er ſtand nicht lange, als eine
Figur ſeine Aufmerkſamkeit an ſich zog, die unru-
hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten
ſchien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem
Marienbilde brannte, unterſchied er genau das Ge-
ſicht, ſo wie die wunderliche Kleidung. Es war
ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit, die
um ſo mehr in die Augen fiel, weil ſie gegen ein
ſcharlachrothes Leibchen, das mit Gold beſetzt war,
hoͤchſt abentheuerlich abſtach; der Rock, den ſie
trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes
glaͤnzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |