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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
ster hatte seine Predigt begonnen, von den Wohl-
thaten Gottes in der Erndte: wie seine Güte alles
speiset und sättiget was lebt, wie wunderbar im
Getraide für die Erhaltung des Menschengeschlech-
tes gesorgt sey, wie die Liebe Gottes sich unauf-
hörlich im Brodte mittheile und der andächtige
Christ so ein unvergängliches Abendmahl gerührt
feyern könne. Die Gemeine war erbaut, des Jä-
gers Blicke ruhten auf dem frommen Redner, und
bemerkten dicht neben der Kanzel ein junges Mäd-
chen, das vor allen andern der Andacht und Auf-
merksamkeit hingegeben schien. Sie war schlank
und blond, ihr blaues Auge glänzte von der durch-
dringendsten Sanftheit, ihr Antlitz war wie durch-
sichtig und in den zartesten Farben blühend. Der
fremde Jüngling hatte sich und sein Herz noch nie-
mals so empfunden, so voll Liebe und so beruhigt,
so den stillsten und erquickendsten Gefühlen hinge-
geben. Er beugte sich weinend, als der Priester
endlich den Seegen sprach, er fühlte sich bei den
heiligen Worten wie von einer unsichtbaren Gewalt
durchdrungen, und das Schattenbild der Nacht in
die tiefste Entfernung wie ein Gespenst hinab ge-
rückt. Er verließ die Kirche, verweilte unter einer
großen Linde, und dankte Gott in einem inbrün-
stigen Gebete, daß er ihn ohne sein Verdienst wie-
der aus den Netzen des bösen Geistes befreyt habe.

Das Dorf feyerte an diesem Tage das Ernd-
tefest und alle Menschen waren fröhlich gestimmt;
die gepuzten Kinder freuten sich auf die Tänze und
Kuchen, die jungen Burschen richteten auf dem

Der Runenberg.
ſter hatte ſeine Predigt begonnen, von den Wohl-
thaten Gottes in der Erndte: wie ſeine Guͤte alles
ſpeiſet und ſaͤttiget was lebt, wie wunderbar im
Getraide fuͤr die Erhaltung des Menſchengeſchlech-
tes geſorgt ſey, wie die Liebe Gottes ſich unauf-
hoͤrlich im Brodte mittheile und der andaͤchtige
Chriſt ſo ein unvergaͤngliches Abendmahl geruͤhrt
feyern koͤnne. Die Gemeine war erbaut, des Jaͤ-
gers Blicke ruhten auf dem frommen Redner, und
bemerkten dicht neben der Kanzel ein junges Maͤd-
chen, das vor allen andern der Andacht und Auf-
merkſamkeit hingegeben ſchien. Sie war ſchlank
und blond, ihr blaues Auge glaͤnzte von der durch-
dringendſten Sanftheit, ihr Antlitz war wie durch-
ſichtig und in den zarteſten Farben bluͤhend. Der
fremde Juͤngling hatte ſich und ſein Herz noch nie-
mals ſo empfunden, ſo voll Liebe und ſo beruhigt,
ſo den ſtillſten und erquickendſten Gefuͤhlen hinge-
geben. Er beugte ſich weinend, als der Prieſter
endlich den Seegen ſprach, er fuͤhlte ſich bei den
heiligen Worten wie von einer unſichtbaren Gewalt
durchdrungen, und das Schattenbild der Nacht in
die tiefſte Entfernung wie ein Geſpenſt hinab ge-
ruͤckt. Er verließ die Kirche, verweilte unter einer
großen Linde, und dankte Gott in einem inbruͤn-
ſtigen Gebete, daß er ihn ohne ſein Verdienſt wie-
der aus den Netzen des boͤſen Geiſtes befreyt habe.

Das Dorf feyerte an dieſem Tage das Ernd-
tefeſt und alle Menſchen waren froͤhlich geſtimmt;
die gepuzten Kinder freuten ſich auf die Taͤnze und
Kuchen, die jungen Burſchen richteten auf dem

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[253/0264] Der Runenberg. ſter hatte ſeine Predigt begonnen, von den Wohl- thaten Gottes in der Erndte: wie ſeine Guͤte alles ſpeiſet und ſaͤttiget was lebt, wie wunderbar im Getraide fuͤr die Erhaltung des Menſchengeſchlech- tes geſorgt ſey, wie die Liebe Gottes ſich unauf- hoͤrlich im Brodte mittheile und der andaͤchtige Chriſt ſo ein unvergaͤngliches Abendmahl geruͤhrt feyern koͤnne. Die Gemeine war erbaut, des Jaͤ- gers Blicke ruhten auf dem frommen Redner, und bemerkten dicht neben der Kanzel ein junges Maͤd- chen, das vor allen andern der Andacht und Auf- merkſamkeit hingegeben ſchien. Sie war ſchlank und blond, ihr blaues Auge glaͤnzte von der durch- dringendſten Sanftheit, ihr Antlitz war wie durch- ſichtig und in den zarteſten Farben bluͤhend. Der fremde Juͤngling hatte ſich und ſein Herz noch nie- mals ſo empfunden, ſo voll Liebe und ſo beruhigt, ſo den ſtillſten und erquickendſten Gefuͤhlen hinge- geben. Er beugte ſich weinend, als der Prieſter endlich den Seegen ſprach, er fuͤhlte ſich bei den heiligen Worten wie von einer unſichtbaren Gewalt durchdrungen, und das Schattenbild der Nacht in die tiefſte Entfernung wie ein Geſpenſt hinab ge- ruͤckt. Er verließ die Kirche, verweilte unter einer großen Linde, und dankte Gott in einem inbruͤn- ſtigen Gebete, daß er ihn ohne ſein Verdienſt wie- der aus den Netzen des boͤſen Geiſtes befreyt habe. Das Dorf feyerte an dieſem Tage das Ernd- tefeſt und alle Menſchen waren froͤhlich geſtimmt; die gepuzten Kinder freuten ſich auf die Taͤnze und Kuchen, die jungen Burſchen richteten auf dem

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/264>, abgerufen am 22.11.2024.