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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
er sich jenseit der südlichen Gränze des Gebirges
befinden müsse, welches er im Frühling von Nor-
den her betreten hatte. Gegen Mittag stand er
über einem Dorfe, aus dessen Hütten ein friedli-
cher Rauch in die Höhe stieg, Kinder spielten auf
einem grünen Platze festtäglich gepuzt, und aus
der kleinen Kirche erscholl der Orgelklang und das
Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbe-
schreiblich süßer Wehmuth, alles rührte ihn so herz-
lich, daß er weinen mußte. Die engen Gärten,
die kleinen Hütten mit ihren rauchenden Schorn-
steinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinner-
ten ihn an die Bedürftigkeit des armen Menschen-
geschlechts, an seine Abhängigkeit vom freundlichen
Erdboden, dessen Milde es sich vertrauen muß; da-
bei erfüllte der Gesang und der Ton der Orgel sein
Herz mit einer nie gefühlten Frömmigkeit. Seine
Empfindungen und Wünsche der Nacht erschienen
ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte sich wieder
kindlich, bedürftig und demüthig an die Menschen
wie an seine Brüder anschließen, und sich von den
gottlosen Gefühlen und Vorsätzen entfernen. Rei-
zend und anlockend dünkte ihm die Ebene mit dem
kleinen Fluß, der sich in mannigfaltigen Krüm-
mungen um Wiesen und Gärten schmiegte; mit
Furcht gedachte er an seinen Aufenthalt in dem
einsamen Gebirge und zwischen den wüsten Stei-
nen, er sehnte sich, in diesem friedlichen Dorfe
wohnen zu dürfen, und trat mit diesen Empfin-
dungen in die menschenerfüllte Kirche.

Der Gesang war eben beendigt und der Prie-

Erſte Abtheilung.
er ſich jenſeit der ſuͤdlichen Graͤnze des Gebirges
befinden muͤſſe, welches er im Fruͤhling von Nor-
den her betreten hatte. Gegen Mittag ſtand er
uͤber einem Dorfe, aus deſſen Huͤtten ein friedli-
cher Rauch in die Hoͤhe ſtieg, Kinder ſpielten auf
einem gruͤnen Platze feſttaͤglich gepuzt, und aus
der kleinen Kirche erſcholl der Orgelklang und das
Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbe-
ſchreiblich ſuͤßer Wehmuth, alles ruͤhrte ihn ſo herz-
lich, daß er weinen mußte. Die engen Gaͤrten,
die kleinen Huͤtten mit ihren rauchenden Schorn-
ſteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinner-
ten ihn an die Beduͤrftigkeit des armen Menſchen-
geſchlechts, an ſeine Abhaͤngigkeit vom freundlichen
Erdboden, deſſen Milde es ſich vertrauen muß; da-
bei erfuͤllte der Geſang und der Ton der Orgel ſein
Herz mit einer nie gefuͤhlten Froͤmmigkeit. Seine
Empfindungen und Wuͤnſche der Nacht erſchienen
ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte ſich wieder
kindlich, beduͤrftig und demuͤthig an die Menſchen
wie an ſeine Bruͤder anſchließen, und ſich von den
gottloſen Gefuͤhlen und Vorſaͤtzen entfernen. Rei-
zend und anlockend duͤnkte ihm die Ebene mit dem
kleinen Fluß, der ſich in mannigfaltigen Kruͤm-
mungen um Wieſen und Gaͤrten ſchmiegte; mit
Furcht gedachte er an ſeinen Aufenthalt in dem
einſamen Gebirge und zwiſchen den wuͤſten Stei-
nen, er ſehnte ſich, in dieſem friedlichen Dorfe
wohnen zu duͤrfen, und trat mit dieſen Empfin-
dungen in die menſchenerfuͤllte Kirche.

Der Geſang war eben beendigt und der Prie-

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[252/0263] Erſte Abtheilung. er ſich jenſeit der ſuͤdlichen Graͤnze des Gebirges befinden muͤſſe, welches er im Fruͤhling von Nor- den her betreten hatte. Gegen Mittag ſtand er uͤber einem Dorfe, aus deſſen Huͤtten ein friedli- cher Rauch in die Hoͤhe ſtieg, Kinder ſpielten auf einem gruͤnen Platze feſttaͤglich gepuzt, und aus der kleinen Kirche erſcholl der Orgelklang und das Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbe- ſchreiblich ſuͤßer Wehmuth, alles ruͤhrte ihn ſo herz- lich, daß er weinen mußte. Die engen Gaͤrten, die kleinen Huͤtten mit ihren rauchenden Schorn- ſteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinner- ten ihn an die Beduͤrftigkeit des armen Menſchen- geſchlechts, an ſeine Abhaͤngigkeit vom freundlichen Erdboden, deſſen Milde es ſich vertrauen muß; da- bei erfuͤllte der Geſang und der Ton der Orgel ſein Herz mit einer nie gefuͤhlten Froͤmmigkeit. Seine Empfindungen und Wuͤnſche der Nacht erſchienen ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte ſich wieder kindlich, beduͤrftig und demuͤthig an die Menſchen wie an ſeine Bruͤder anſchließen, und ſich von den gottloſen Gefuͤhlen und Vorſaͤtzen entfernen. Rei- zend und anlockend duͤnkte ihm die Ebene mit dem kleinen Fluß, der ſich in mannigfaltigen Kruͤm- mungen um Wieſen und Gaͤrten ſchmiegte; mit Furcht gedachte er an ſeinen Aufenthalt in dem einſamen Gebirge und zwiſchen den wuͤſten Stei- nen, er ſehnte ſich, in dieſem friedlichen Dorfe wohnen zu duͤrfen, und trat mit dieſen Empfin- dungen in die menſchenerfuͤllte Kirche. Der Geſang war eben beendigt und der Prie-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/263>, abgerufen am 25.11.2024.