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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Sonne sich neigt, und unten am Horizont wie
über uns die lebendigen Düfte in vielfachen
Schimmer sich tauchen, dann erfüllt ein liebli-
ches Ergötzen unsre Seele. So wollen wir die
große Wiese mit Gebüschen und Bäumen unter-
brochen sehn, und auf gleiche Weise fühlen wir
in unsrer nächsten Umgebung, in unserm Hause,
am dringendsten das Bedürfniß einer gewissen
Kunst. Die weißen leeren Wände unsrer Zim-
mer und Säle sind uns unleidlich, Arabesken,
Blumen, Thiere und Früchte umgeben uns in
gefärbten und vielfach durchbrochenen Linien und
Flächen mit mancherlei Gestalt, und selbst der
Fußboden muß sich zum Schmuck und zur an-
ständigen Zier zusammen fügen. Alles soll den
äußern Sinn erregen und dadurch auch den in-
nerlichen beschäftigen, und Rafaels Wandge-
mählde im Vatikan sind für Wohnzimmer viel-
leicht schon zu erhaben, und also als immer-
währende Gesellschaft unbequem. Dieses durch-
aus edle Kunstbedürfniß des gebildeten Men-
schen erfüllt Ariost, er ist mehr Gefährte und
Freund als Dichter, und wir thun wohl nicht
Unrecht, wenn wir über die vollendete Schön-
heit des Einzelnen, über diese Fülle der Ge-
stalten, über diesen zarten blumenartigen Witz,
über diese ernste und milde Weisheit eines hei-
tern Sinnes die Zusammensetzung vergessen.

Es scheint mir sehr richtig, fuhr Anton
fort, daß diese gesellige Kunst auch in der Poesie

Erſte Abtheilung.
Sonne ſich neigt, und unten am Horizont wie
uͤber uns die lebendigen Duͤfte in vielfachen
Schimmer ſich tauchen, dann erfuͤllt ein liebli-
ches Ergoͤtzen unſre Seele. So wollen wir die
große Wieſe mit Gebuͤſchen und Baͤumen unter-
brochen ſehn, und auf gleiche Weiſe fuͤhlen wir
in unſrer naͤchſten Umgebung, in unſerm Hauſe,
am dringendſten das Beduͤrfniß einer gewiſſen
Kunſt. Die weißen leeren Waͤnde unſrer Zim-
mer und Saͤle ſind uns unleidlich, Arabesken,
Blumen, Thiere und Fruͤchte umgeben uns in
gefaͤrbten und vielfach durchbrochenen Linien und
Flaͤchen mit mancherlei Geſtalt, und ſelbſt der
Fußboden muß ſich zum Schmuck und zur an-
ſtaͤndigen Zier zuſammen fuͤgen. Alles ſoll den
aͤußern Sinn erregen und dadurch auch den in-
nerlichen beſchaͤftigen, und Rafaels Wandge-
maͤhlde im Vatikan ſind fuͤr Wohnzimmer viel-
leicht ſchon zu erhaben, und alſo als immer-
waͤhrende Geſellſchaft unbequem. Dieſes durch-
aus edle Kunſtbeduͤrfniß des gebildeten Men-
ſchen erfuͤllt Arioſt, er iſt mehr Gefaͤhrte und
Freund als Dichter, und wir thun wohl nicht
Unrecht, wenn wir uͤber die vollendete Schoͤn-
heit des Einzelnen, uͤber dieſe Fuͤlle der Ge-
ſtalten, uͤber dieſen zarten blumenartigen Witz,
uͤber dieſe ernſte und milde Weisheit eines hei-
tern Sinnes die Zuſammenſetzung vergeſſen.

Es ſcheint mir ſehr richtig, fuhr Anton
fort, daß dieſe geſellige Kunſt auch in der Poeſie

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[141/0152] Erſte Abtheilung. Sonne ſich neigt, und unten am Horizont wie uͤber uns die lebendigen Duͤfte in vielfachen Schimmer ſich tauchen, dann erfuͤllt ein liebli- ches Ergoͤtzen unſre Seele. So wollen wir die große Wieſe mit Gebuͤſchen und Baͤumen unter- brochen ſehn, und auf gleiche Weiſe fuͤhlen wir in unſrer naͤchſten Umgebung, in unſerm Hauſe, am dringendſten das Beduͤrfniß einer gewiſſen Kunſt. Die weißen leeren Waͤnde unſrer Zim- mer und Saͤle ſind uns unleidlich, Arabesken, Blumen, Thiere und Fruͤchte umgeben uns in gefaͤrbten und vielfach durchbrochenen Linien und Flaͤchen mit mancherlei Geſtalt, und ſelbſt der Fußboden muß ſich zum Schmuck und zur an- ſtaͤndigen Zier zuſammen fuͤgen. Alles ſoll den aͤußern Sinn erregen und dadurch auch den in- nerlichen beſchaͤftigen, und Rafaels Wandge- maͤhlde im Vatikan ſind fuͤr Wohnzimmer viel- leicht ſchon zu erhaben, und alſo als immer- waͤhrende Geſellſchaft unbequem. Dieſes durch- aus edle Kunſtbeduͤrfniß des gebildeten Men- ſchen erfuͤllt Arioſt, er iſt mehr Gefaͤhrte und Freund als Dichter, und wir thun wohl nicht Unrecht, wenn wir uͤber die vollendete Schoͤn- heit des Einzelnen, uͤber dieſe Fuͤlle der Ge- ſtalten, uͤber dieſen zarten blumenartigen Witz, uͤber dieſe ernſte und milde Weisheit eines hei- tern Sinnes die Zuſammenſetzung vergeſſen. Es ſcheint mir ſehr richtig, fuhr Anton fort, daß dieſe geſellige Kunſt auch in der Poeſie

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/152>, abgerufen am 24.11.2024.