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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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ten verlassen, die mir sonst so willig zu Gebote
standen. Eine schreckliche Nüchternheit befällt
mich, wenn ich an mich selbst denke, ich fühle
meine ganze Nichtswürdigkeit, wie jetzt nichts
in mir zusammenhängt, wie ich so gar nichts
bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir ver-
fahre. O es ist schrecklich, Rosa! sich selbst
in seinem Innern nicht beherbergen zu können,
leer an jenen Stellen, auf denen man sonst mit
vorzüglicher Liebe verweilte, alles wüst durch-
einander geworfen, was ich sonst nach einer
schönen und zwanglosen Regel dachte und em-
pfand: von den niedrigsten Leidenschaften hin-
gerissen, die ich verachte und die mich dennoch
auf ewig zu ihrem Sklaven gemacht haben.
Ohne Genuß umhergetrieben, rastlos von die-
sem Gegenstande zu jenem geworfen, in einer
unaufhörlichen Spannung, stets ohne Befriedi-
gung, lüstern mit einer verdorbenen, in sich
selbst verwesten Phantasie, ohne frische Lebens-
kraft, von einem zerstörten Körper zu einer
drückenden Melankolie gezwungen, die mir un-
aufhörlich die große Rechnung meiner Sünden
vorhält; -- nein, Rosa, ich kann mich selber
nicht mehr ertragen. Wäre Andrea nicht, so

ten verlaſſen, die mir ſonſt ſo willig zu Gebote
ſtanden. Eine ſchreckliche Nuͤchternheit befaͤllt
mich, wenn ich an mich ſelbſt denke, ich fuͤhle
meine ganze Nichtswuͤrdigkeit, wie jetzt nichts
in mir zuſammenhaͤngt, wie ich ſo gar nichts
bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir ver-
fahre. O es iſt ſchrecklich, Roſa! ſich ſelbſt
in ſeinem Innern nicht beherbergen zu koͤnnen,
leer an jenen Stellen, auf denen man ſonſt mit
vorzuͤglicher Liebe verweilte, alles wuͤſt durch-
einander geworfen, was ich ſonſt nach einer
ſchoͤnen und zwangloſen Regel dachte und em-
pfand: von den niedrigſten Leidenſchaften hin-
geriſſen, die ich verachte und die mich dennoch
auf ewig zu ihrem Sklaven gemacht haben.
Ohne Genuß umhergetrieben, raſtlos von die-
ſem Gegenſtande zu jenem geworfen, in einer
unaufhoͤrlichen Spannung, ſtets ohne Befriedi-
gung, luͤſtern mit einer verdorbenen, in ſich
ſelbſt verweſten Phantaſie, ohne friſche Lebens-
kraft, von einem zerſtoͤrten Koͤrper zu einer
druͤckenden Melankolie gezwungen, die mir un-
aufhoͤrlich die große Rechnung meiner Suͤnden
vorhaͤlt; — nein, Roſa, ich kann mich ſelber
nicht mehr ertragen. Waͤre Andrea nicht, ſo

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[297/0304] ten verlaſſen, die mir ſonſt ſo willig zu Gebote ſtanden. Eine ſchreckliche Nuͤchternheit befaͤllt mich, wenn ich an mich ſelbſt denke, ich fuͤhle meine ganze Nichtswuͤrdigkeit, wie jetzt nichts in mir zuſammenhaͤngt, wie ich ſo gar nichts bin, nichts, wenn ich aufrichtig mit mir ver- fahre. O es iſt ſchrecklich, Roſa! ſich ſelbſt in ſeinem Innern nicht beherbergen zu koͤnnen, leer an jenen Stellen, auf denen man ſonſt mit vorzuͤglicher Liebe verweilte, alles wuͤſt durch- einander geworfen, was ich ſonſt nach einer ſchoͤnen und zwangloſen Regel dachte und em- pfand: von den niedrigſten Leidenſchaften hin- geriſſen, die ich verachte und die mich dennoch auf ewig zu ihrem Sklaven gemacht haben. Ohne Genuß umhergetrieben, raſtlos von die- ſem Gegenſtande zu jenem geworfen, in einer unaufhoͤrlichen Spannung, ſtets ohne Befriedi- gung, luͤſtern mit einer verdorbenen, in ſich ſelbſt verweſten Phantaſie, ohne friſche Lebens- kraft, von einem zerſtoͤrten Koͤrper zu einer druͤckenden Melankolie gezwungen, die mir un- aufhoͤrlich die große Rechnung meiner Suͤnden vorhaͤlt; — nein, Roſa, ich kann mich ſelber nicht mehr ertragen. Waͤre Andrea nicht, ſo

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/304>, abgerufen am 19.05.2024.