Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

mich zuweilen vergesse, so mache ich mir nach-
her über meinen Leichtsinn nur desto schmerz-
haftere Vorwürfe. Als nun ihr Rausch nach
und nach entfloh, was muß Sie da gelitten
haben! als sie sich die Entdeckungen in dem
Innern ihrer Seele gestand und alles wie nich-
tiges schaales Spielzeug da lag, das sie in der
Entfernung immer mit so vieler Ehrerbietung
betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte
sie für etwas Einziges gehalten, sie hatte un-
vollendete schöne Eigenschaften darinn geahn-
det und sich selbst als ein Wesen betrachtet,
das mit seinen großen und mannigfaltigen Fä-
higkeiten unbekannt sey. Dies ist der gefähr-
lichste Stolz im Menschen, er macht ihn frech
und zuversichtlich auf Gaben, die er nicht be-
sitzt, und unglücklich, wenn die Seele endlich
selbst jene eingebildeten Schwingen versuchen
will. -- Wenn das Sterben ein Erwachen
vom Leben ist, so war sie schon vor dem Tode
auf eine ähnliche Art erwacht, das beweißt ihr
letzter Brief. Sie muß es innig gefühlt haben,
daß sie nur geträumt und nicht gelebt habe;
wie muß sie erschrocken gewesen seyn, als sie

mich zuweilen vergeſſe, ſo mache ich mir nach-
her uͤber meinen Leichtſinn nur deſto ſchmerz-
haftere Vorwuͤrfe. Als nun ihr Rauſch nach
und nach entfloh, was muß Sie da gelitten
haben! als ſie ſich die Entdeckungen in dem
Innern ihrer Seele geſtand und alles wie nich-
tiges ſchaales Spielzeug da lag, das ſie in der
Entfernung immer mit ſo vieler Ehrerbietung
betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte
ſie fuͤr etwas Einziges gehalten, ſie hatte un-
vollendete ſchoͤne Eigenſchaften darinn geahn-
det und ſich ſelbſt als ein Weſen betrachtet,
das mit ſeinen großen und mannigfaltigen Faͤ-
higkeiten unbekannt ſey. Dies iſt der gefaͤhr-
lichſte Stolz im Menſchen, er macht ihn frech
und zuverſichtlich auf Gaben, die er nicht be-
ſitzt, und ungluͤcklich, wenn die Seele endlich
ſelbſt jene eingebildeten Schwingen verſuchen
will. — Wenn das Sterben ein Erwachen
vom Leben iſt, ſo war ſie ſchon vor dem Tode
auf eine aͤhnliche Art erwacht, das beweißt ihr
letzter Brief. Sie muß es innig gefuͤhlt haben,
daß ſie nur getraͤumt und nicht gelebt habe;
wie muß ſie erſchrocken geweſen ſeyn, als ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0206" n="199"/>
mich zuweilen verge&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;o mache ich mir nach-<lb/>
her u&#x0364;ber meinen Leicht&#x017F;inn nur de&#x017F;to &#x017F;chmerz-<lb/>
haftere Vorwu&#x0364;rfe. Als nun ihr Rau&#x017F;ch nach<lb/>
und nach entfloh, was muß Sie da gelitten<lb/>
haben! als &#x017F;ie &#x017F;ich die Entdeckungen in dem<lb/>
Innern ihrer Seele ge&#x017F;tand und alles wie nich-<lb/>
tiges &#x017F;chaales Spielzeug da lag, das &#x017F;ie in der<lb/>
Entfernung immer mit &#x017F;o vieler Ehrerbietung<lb/>
betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte<lb/>
&#x017F;ie fu&#x0364;r etwas Einziges gehalten, &#x017F;ie hatte un-<lb/>
vollendete &#x017F;cho&#x0364;ne Eigen&#x017F;chaften darinn geahn-<lb/>
det und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t als ein We&#x017F;en betrachtet,<lb/>
das mit &#x017F;einen großen und mannigfaltigen Fa&#x0364;-<lb/>
higkeiten unbekannt &#x017F;ey. Dies i&#x017F;t der gefa&#x0364;hr-<lb/>
lich&#x017F;te Stolz im Men&#x017F;chen, er macht ihn frech<lb/>
und zuver&#x017F;ichtlich auf Gaben, die er nicht be-<lb/>
&#x017F;itzt, und unglu&#x0364;cklich, wenn die Seele endlich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t jene eingebildeten Schwingen ver&#x017F;uchen<lb/>
will. &#x2014; Wenn das Sterben ein Erwachen<lb/>
vom Leben i&#x017F;t, &#x017F;o war &#x017F;ie &#x017F;chon vor dem Tode<lb/>
auf eine a&#x0364;hnliche Art erwacht, das beweißt ihr<lb/>
letzter Brief. Sie muß es innig gefu&#x0364;hlt haben,<lb/>
daß &#x017F;ie nur getra&#x0364;umt und nicht gelebt habe;<lb/>
wie muß &#x017F;ie er&#x017F;chrocken gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, als &#x017F;ie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0206] mich zuweilen vergeſſe, ſo mache ich mir nach- her uͤber meinen Leichtſinn nur deſto ſchmerz- haftere Vorwuͤrfe. Als nun ihr Rauſch nach und nach entfloh, was muß Sie da gelitten haben! als ſie ſich die Entdeckungen in dem Innern ihrer Seele geſtand und alles wie nich- tiges ſchaales Spielzeug da lag, das ſie in der Entfernung immer mit ſo vieler Ehrerbietung betrachtet hatte. Ihre hohe Empfindung hatte ſie fuͤr etwas Einziges gehalten, ſie hatte un- vollendete ſchoͤne Eigenſchaften darinn geahn- det und ſich ſelbſt als ein Weſen betrachtet, das mit ſeinen großen und mannigfaltigen Faͤ- higkeiten unbekannt ſey. Dies iſt der gefaͤhr- lichſte Stolz im Menſchen, er macht ihn frech und zuverſichtlich auf Gaben, die er nicht be- ſitzt, und ungluͤcklich, wenn die Seele endlich ſelbſt jene eingebildeten Schwingen verſuchen will. — Wenn das Sterben ein Erwachen vom Leben iſt, ſo war ſie ſchon vor dem Tode auf eine aͤhnliche Art erwacht, das beweißt ihr letzter Brief. Sie muß es innig gefuͤhlt haben, daß ſie nur getraͤumt und nicht gelebt habe; wie muß ſie erſchrocken geweſen ſeyn, als ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/206
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/206>, abgerufen am 05.05.2024.