Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

es uns wieder leid, daß wir die Zeit so verdor-
ben haben.

Ich bin indessen durch Kensea gereist, den
Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen sollte. --
Ein altes gothisches Gebäude steht hier in ei-
ner wüsten waldigen Gegend, der Garten ist
verwildert, alle Bedienten sehen aus wie Bar-
baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque-
mes Ansehen, viele Fenster sind zerschlagen, die
eine Mauer hat Risse. -- O! mit welchem Wi-
derwillen habe ich alles betrachtet! -- Hier
sollt' ich leben, in einer dunkeln, langweiligen
drückenden Einsamkeit? -- Von der ganzen
Welt abgerissen, wie ein vertriebener Bettler?
einer scheuen Eule gleich, die vor dem lästigen
Tageslichte endlich einen düstern Schlupfwinkel
findet? -- Nein, die ganze weite Welt steht mir
freundlich offen, und ich kehre dem einsiedleri-
schen Schlosse verächtlich den Rücken. So wie
ich hier leben würde, kann ich es allenthalben;
und in einem fremden Lande, unter einem an-
dern Klima würde mich keine Sklaverey so hart
drücken.

Ich lebe hier in London unter dem bunten
Gewühle; ich spiele und mache ansehnliche Ge-

es uns wieder leid, daß wir die Zeit ſo verdor-
ben haben.

Ich bin indeſſen durch Kenſea gereiſt, den
Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen ſollte. —
Ein altes gothiſches Gebaͤude ſteht hier in ei-
ner wuͤſten waldigen Gegend, der Garten iſt
verwildert, alle Bedienten ſehen aus wie Bar-
baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque-
mes Anſehen, viele Fenſter ſind zerſchlagen, die
eine Mauer hat Riſſe. — O! mit welchem Wi-
derwillen habe ich alles betrachtet! — Hier
ſollt' ich leben, in einer dunkeln, langweiligen
druͤckenden Einſamkeit? — Von der ganzen
Welt abgeriſſen, wie ein vertriebener Bettler?
einer ſcheuen Eule gleich, die vor dem laͤſtigen
Tageslichte endlich einen duͤſtern Schlupfwinkel
findet? — Nein, die ganze weite Welt ſteht mir
freundlich offen, und ich kehre dem einſiedleri-
ſchen Schloſſe veraͤchtlich den Ruͤcken. So wie
ich hier leben wuͤrde, kann ich es allenthalben;
und in einem fremden Lande, unter einem an-
dern Klima wuͤrde mich keine Sklaverey ſo hart
druͤcken.

Ich lebe hier in London unter dem bunten
Gewuͤhle; ich ſpiele und mache anſehnliche Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0107" n="100"/>
es uns wieder leid, daß wir die Zeit &#x017F;o verdor-<lb/>
ben haben.</p><lb/>
          <p>Ich bin inde&#x017F;&#x017F;en durch <hi rendition="#g">Ken&#x017F;ea</hi> gerei&#x017F;t, den<lb/>
Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen &#x017F;ollte. &#x2014;<lb/>
Ein altes gothi&#x017F;ches Geba&#x0364;ude &#x017F;teht hier in ei-<lb/>
ner wu&#x0364;&#x017F;ten waldigen Gegend, der Garten i&#x017F;t<lb/>
verwildert, alle Bedienten &#x017F;ehen aus wie Bar-<lb/>
baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque-<lb/>
mes <choice><sic>Au&#x017F;ehen</sic><corr>An&#x017F;ehen</corr></choice>, viele Fen&#x017F;ter &#x017F;ind zer&#x017F;chlagen, die<lb/>
eine Mauer hat Ri&#x017F;&#x017F;e. &#x2014; O! mit welchem Wi-<lb/>
derwillen habe ich alles betrachtet! &#x2014; <hi rendition="#g">Hier</hi><lb/>
&#x017F;ollt' ich leben, in einer dunkeln, langweiligen<lb/>
dru&#x0364;ckenden Ein&#x017F;amkeit? &#x2014; Von der ganzen<lb/>
Welt abgeri&#x017F;&#x017F;en, wie ein vertriebener Bettler?<lb/>
einer &#x017F;cheuen Eule gleich, die vor dem la&#x0364;&#x017F;tigen<lb/>
Tageslichte endlich einen du&#x0364;&#x017F;tern Schlupfwinkel<lb/>
findet? &#x2014; Nein, die ganze weite Welt &#x017F;teht mir<lb/>
freundlich offen, und ich kehre dem ein&#x017F;iedleri-<lb/>
&#x017F;chen Schlo&#x017F;&#x017F;e vera&#x0364;chtlich den Ru&#x0364;cken. So wie<lb/>
ich hier leben wu&#x0364;rde, kann ich es allenthalben;<lb/>
und in einem fremden Lande, unter einem an-<lb/>
dern Klima wu&#x0364;rde mich keine Sklaverey &#x017F;o hart<lb/>
dru&#x0364;cken.</p><lb/>
          <p>Ich lebe hier in London unter dem bunten<lb/>
Gewu&#x0364;hle; ich &#x017F;piele und mache an&#x017F;ehnliche Ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0107] es uns wieder leid, daß wir die Zeit ſo verdor- ben haben. Ich bin indeſſen durch Kenſea gereiſt, den Ort wo ich jetzt eigentlich wohnen ſollte. — Ein altes gothiſches Gebaͤude ſteht hier in ei- ner wuͤſten waldigen Gegend, der Garten iſt verwildert, alle Bedienten ſehen aus wie Bar- baren, das ganze Haus hat ein kaltes unbeque- mes Anſehen, viele Fenſter ſind zerſchlagen, die eine Mauer hat Riſſe. — O! mit welchem Wi- derwillen habe ich alles betrachtet! — Hier ſollt' ich leben, in einer dunkeln, langweiligen druͤckenden Einſamkeit? — Von der ganzen Welt abgeriſſen, wie ein vertriebener Bettler? einer ſcheuen Eule gleich, die vor dem laͤſtigen Tageslichte endlich einen duͤſtern Schlupfwinkel findet? — Nein, die ganze weite Welt ſteht mir freundlich offen, und ich kehre dem einſiedleri- ſchen Schloſſe veraͤchtlich den Ruͤcken. So wie ich hier leben wuͤrde, kann ich es allenthalben; und in einem fremden Lande, unter einem an- dern Klima wuͤrde mich keine Sklaverey ſo hart druͤcken. Ich lebe hier in London unter dem bunten Gewuͤhle; ich ſpiele und mache anſehnliche Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/107
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/107>, abgerufen am 06.05.2024.