Was bleibt uns übrig, William, wenn wir alle leere Nahmen verbannen wollen? -- Frei- lich nichts zu philosophiren und mit Enthusias- mus für die Tugend und gegen das Laster zu reden, kein Stolz, kein Gepränge mit Redens- arten, aber immer noch eben so viel Raum um zu leben.
Die Empfindung geht daher einen kürzern und richtigern Weg, als der grübelnde Ver- stand; denn das Gefühl ist der Haushofmeister unserer Maschine, der erste Oberaufseher, der dem alten pedantischen Verstande alles überlie- fert, der es weitläuftig und auf seine ihm ei- gene Art bearbeitet. Gefühl und Verstand sind zwey nebeneinander laufende Seiltänzer, die sich ewig ihre Kunststücke nachahmen, einer ver- achtet den andern und will ihn übertreffen.
Wenn wir nicht bloße Maschinen sind, so reißt sich die Seele einst gewiß von allem los, was sie so lästig gefangen hält, sie wird nicht schließen und unterscheiden, nicht ahnden und glauben, sondern im raschen, reißenden Fluge nach ihrem ungekannten Vaterlande eilen, wo sie wirken und ungefesselt dauern kann.
Wenigen wundervollen Menschen war es vielleicht gegönnt, sich schon hier, von den
Was bleibt uns uͤbrig, William, wenn wir alle leere Nahmen verbannen wollen? — Frei- lich nichts zu philoſophiren und mit Enthuſias- mus fuͤr die Tugend und gegen das Laſter zu reden, kein Stolz, kein Gepraͤnge mit Redens- arten, aber immer noch eben ſo viel Raum um zu leben.
Die Empfindung geht daher einen kuͤrzern und richtigern Weg, als der gruͤbelnde Ver- ſtand; denn das Gefuͤhl iſt der Haushofmeiſter unſerer Maſchine, der erſte Oberaufſeher, der dem alten pedantiſchen Verſtande alles uͤberlie- fert, der es weitlaͤuftig und auf ſeine ihm ei- gene Art bearbeitet. Gefuͤhl und Verſtand ſind zwey nebeneinander laufende Seiltaͤnzer, die ſich ewig ihre Kunſtſtuͤcke nachahmen, einer ver- achtet den andern und will ihn uͤbertreffen.
Wenn wir nicht bloße Maſchinen ſind, ſo reißt ſich die Seele einſt gewiß von allem los, was ſie ſo laͤſtig gefangen haͤlt, ſie wird nicht ſchließen und unterſcheiden, nicht ahnden und glauben, ſondern im raſchen, reißenden Fluge nach ihrem ungekannten Vaterlande eilen, wo ſie wirken und ungefeſſelt dauern kann.
Wenigen wundervollen Menſchen war es vielleicht gegoͤnnt, ſich ſchon hier, von den
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Was bleibt uns uͤbrig, William, wenn wir
alle leere Nahmen verbannen wollen? — Frei-
lich nichts zu philoſophiren und mit Enthuſias-
mus fuͤr die Tugend und gegen das Laſter zu
reden, kein Stolz, kein Gepraͤnge mit Redens-
arten, aber immer noch eben ſo viel Raum um
zu leben.
Die Empfindung geht daher einen kuͤrzern
und richtigern Weg, als der gruͤbelnde Ver-
ſtand; denn das Gefuͤhl iſt der Haushofmeiſter
unſerer Maſchine, der erſte Oberaufſeher, der
dem alten pedantiſchen Verſtande alles uͤberlie-
fert, der es weitlaͤuftig und auf ſeine ihm ei-
gene Art bearbeitet. Gefuͤhl und Verſtand ſind
zwey nebeneinander laufende Seiltaͤnzer, die ſich
ewig ihre Kunſtſtuͤcke nachahmen, einer ver-
achtet den andern und will ihn uͤbertreffen.
Wenn wir nicht bloße Maſchinen ſind, ſo
reißt ſich die Seele einſt gewiß von allem los,
was ſie ſo laͤſtig gefangen haͤlt, ſie wird nicht
ſchließen und unterſcheiden, nicht ahnden und
glauben, ſondern im raſchen, reißenden Fluge
nach ihrem ungekannten Vaterlande eilen, wo
ſie wirken und ungefeſſelt dauern kann.
Wenigen wundervollen Menſchen war es
vielleicht gegoͤnnt, ſich ſchon hier, von den
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/347>, abgerufen am 22.11.2024.
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