zu uns, und es ist, als wollte sich das ganze Gemählde plötzlich zusammen rollen, und das Wesen unverkleidet hervortreten und sich zeigen, das unter der Masse liegt und sie belebt; wir wagen es nicht den großen Moment abzuwarten, sondern entfliehn, ohne hinter uns zu sehen, und halten uns an einer von den tausend Kin- dereyen fest, die uns in den gewöhnlichen Stun- den interessiren. -- Oft ist mir jetzt, als woll- te das Gewand der Gegenstände entfliehen wie von einem Sturmwinde ergriffen und ohnmäch- tig fällt mein Geist zu Boden, und die Gewöhn- lichkeit kehrt an ihre Stelle zurück. In uns selber sind wir gefangen und mit Ketten zurück- gehalten; der Tod zerreißt vielleicht die Fesseln, und die Seele des Menschen wird gebohren. --
Aber sagen Sie mir, Rosa, warum mir sonst diese Gedanken fern blieben, ob sie gleich in mir lagen? Warum ich Balders Worte da- mals nicht verstand, ob sie ihm gleich im Stil- len mein Geist nachsprach, so wie er sie schon lange vor ihm so gesprochen hatte? Warum sind wir uns selbst oft so fremd, und das Nächste
zu uns, und es iſt, als wollte ſich das ganze Gemaͤhlde ploͤtzlich zuſammen rollen, und das Weſen unverkleidet hervortreten und ſich zeigen, das unter der Maſſe liegt und ſie belebt; wir wagen es nicht den großen Moment abzuwarten, ſondern entfliehn, ohne hinter uns zu ſehen, und halten uns an einer von den tauſend Kin- dereyen feſt, die uns in den gewoͤhnlichen Stun- den intereſſiren. — Oft iſt mir jetzt, als woll- te das Gewand der Gegenſtaͤnde entfliehen wie von einem Sturmwinde ergriffen und ohnmaͤch- tig faͤllt mein Geiſt zu Boden, und die Gewoͤhn- lichkeit kehrt an ihre Stelle zuruͤck. In uns ſelber ſind wir gefangen und mit Ketten zuruͤck- gehalten; der Tod zerreißt vielleicht die Feſſeln, und die Seele des Menſchen wird gebohren. —
Aber ſagen Sie mir, Roſa, warum mir ſonſt dieſe Gedanken fern blieben, ob ſie gleich in mir lagen? Warum ich Balders Worte da- mals nicht verſtand, ob ſie ihm gleich im Stil- len mein Geiſt nachſprach, ſo wie er ſie ſchon lange vor ihm ſo geſprochen hatte? Warum ſind wir uns ſelbſt oft ſo fremd, und das Naͤchſte
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Gemaͤhlde ploͤtzlich zuſammen rollen, und das
Weſen unverkleidet hervortreten und ſich zeigen,
das unter der Maſſe liegt und ſie belebt; wir
wagen es nicht den großen Moment abzuwarten,
ſondern entfliehn, ohne hinter uns zu ſehen,
und halten uns an einer von den tauſend Kin-
dereyen feſt, die uns in den gewoͤhnlichen Stun-
den intereſſiren. — Oft iſt mir jetzt, als woll-
te das Gewand der Gegenſtaͤnde entfliehen wie
von einem Sturmwinde ergriffen und ohnmaͤch-
tig faͤllt mein Geiſt zu Boden, und die Gewoͤhn-
lichkeit kehrt an ihre Stelle zuruͤck. In uns
ſelber ſind wir gefangen und mit Ketten zuruͤck-
gehalten; der Tod zerreißt vielleicht die Feſſeln,
und die Seele des Menſchen wird gebohren. —
Aber ſagen Sie mir, Roſa, warum mir
ſonſt dieſe Gedanken fern blieben, ob ſie gleich
in mir lagen? Warum ich Balders Worte da-
mals nicht verſtand, ob ſie ihm gleich im Stil-
len mein Geiſt nachſprach, ſo wie er ſie ſchon
lange vor ihm ſo geſprochen hatte? Warum
ſind wir uns ſelbſt oft ſo fremd, und das Naͤchſte
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/266>, abgerufen am 22.11.2024.
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