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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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Tag beruhigt zu haben, der wie eine lange
Wüste vor ihm lag, durch die er noch wandern
müßte. Die Männer sind doch seltsame Wesen!
Mein Mortimer gehört nicht zu den härtesten,
und doch scheint er in manchen Stunden für
die kleinern Empfindungen ganz gefühllos. Ich
hatte neulich einen ordentlichen Streit mit ihm.
Schon seit einigen Wochen trieb sich hier eine
arme Französinn herum, sie schien aus einem
guten bürgerlichen Hause, und erzählte viel von
ihren Eltern, die ihr früh in der Jugend ge-
storben waren, und von mancherley Unglücksfäl-
len, die sie seitdem erduldet hatte. Ich will
gerne glauben, daß manches davon erdichtet
war; aber verdient ein Unglücklicher darum we-
niger unser Mitleid, weil er es nicht jedem
Fremden vertrauen will, durch welche Schwä-
chen er so unglücklich ward? Ich dachte mich
in die Lage der Frau hinein, und wollte sie in
meine Dienste nehmen, aber Mortimer setzte
sich dagegen, und zwar aus keinem bessern Grun-
de, als weil sie ausgezeichnet häßlich und dabey
einäugig sey, er sagte, daß er einem solchen
Wesen nie trauen könne. -- Bedenken Sie,
liebe Emilie, blos weil sie häßlich war! -- Aber

Tag beruhigt zu haben, der wie eine lange
Wuͤſte vor ihm lag, durch die er noch wandern
muͤßte. Die Maͤnner ſind doch ſeltſame Weſen!
Mein Mortimer gehoͤrt nicht zu den haͤrteſten,
und doch ſcheint er in manchen Stunden fuͤr
die kleinern Empfindungen ganz gefuͤhllos. Ich
hatte neulich einen ordentlichen Streit mit ihm.
Schon ſeit einigen Wochen trieb ſich hier eine
arme Franzoͤſinn herum, ſie ſchien aus einem
guten buͤrgerlichen Hauſe, und erzaͤhlte viel von
ihren Eltern, die ihr fruͤh in der Jugend ge-
ſtorben waren, und von mancherley Ungluͤcksfaͤl-
len, die ſie ſeitdem erduldet hatte. Ich will
gerne glauben, daß manches davon erdichtet
war; aber verdient ein Ungluͤcklicher darum we-
niger unſer Mitleid, weil er es nicht jedem
Fremden vertrauen will, durch welche Schwaͤ-
chen er ſo ungluͤcklich ward? Ich dachte mich
in die Lage der Frau hinein, und wollte ſie in
meine Dienſte nehmen, aber Mortimer ſetzte
ſich dagegen, und zwar aus keinem beſſern Grun-
de, als weil ſie ausgezeichnet haͤßlich und dabey
einaͤugig ſey, er ſagte, daß er einem ſolchen
Weſen nie trauen koͤnne. — Bedenken Sie,
liebe Emilie, blos weil ſie haͤßlich war! — Aber

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[251/0257] Tag beruhigt zu haben, der wie eine lange Wuͤſte vor ihm lag, durch die er noch wandern muͤßte. Die Maͤnner ſind doch ſeltſame Weſen! Mein Mortimer gehoͤrt nicht zu den haͤrteſten, und doch ſcheint er in manchen Stunden fuͤr die kleinern Empfindungen ganz gefuͤhllos. Ich hatte neulich einen ordentlichen Streit mit ihm. Schon ſeit einigen Wochen trieb ſich hier eine arme Franzoͤſinn herum, ſie ſchien aus einem guten buͤrgerlichen Hauſe, und erzaͤhlte viel von ihren Eltern, die ihr fruͤh in der Jugend ge- ſtorben waren, und von mancherley Ungluͤcksfaͤl- len, die ſie ſeitdem erduldet hatte. Ich will gerne glauben, daß manches davon erdichtet war; aber verdient ein Ungluͤcklicher darum we- niger unſer Mitleid, weil er es nicht jedem Fremden vertrauen will, durch welche Schwaͤ- chen er ſo ungluͤcklich ward? Ich dachte mich in die Lage der Frau hinein, und wollte ſie in meine Dienſte nehmen, aber Mortimer ſetzte ſich dagegen, und zwar aus keinem beſſern Grun- de, als weil ſie ausgezeichnet haͤßlich und dabey einaͤugig ſey, er ſagte, daß er einem ſolchen Weſen nie trauen koͤnne. — Bedenken Sie, liebe Emilie, blos weil ſie haͤßlich war! — Aber

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/257>, abgerufen am 18.05.2024.