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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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mühsam an den feuchten Wänden zum Lichte
empor arbeite.



Nein, ich kann den Tod nicht fürchten, der
mir in jeder Stunde näher tritt, ich sehe ihm
mit festen Augen, ja mit einer Art von Sehn-
sucht entgegen. Jeder Klang ist versunken, nur
eine innige Wehmuth schlägt unermüdet ihre
Töne in mir an, so wie sich jedes fröhliche Ge-
räusch in den ziehenden ernsten Kirchengesang
verliert. Alle Gedanken sind nach dem Grabe
hingerichtet, Sonnenaufgang und Untergang,
alle Erscheinungen der Natur sind mir Bothen,
die mich dorthin rufen. -- Ich begreife die
Verändrung nicht, die in mir vorgegangen ist,
vieles steht verjüngt, wie in der Kindheit vor
mir, ja ich bin wieder zum Kinde geworden,
und gehe nun durch dasselbe rosenrothe Thor
wieder aus dem Leben hinaus, durch welches
ich eintrat. So ist mein ganzer Lebenslauf nur
ein Kreis gewesen, indem ich immer glaubte, in
grader Richtung fortzugehen. Die Welt mit
allen Freuden und Leiden liegt hinter mir, wie
ein weites Gebirge, das der Nebel unkenntlich
macht, nur das Thal, in welchem ich Ruhe

muͤhſam an den feuchten Waͤnden zum Lichte
empor arbeite.



Nein, ich kann den Tod nicht fuͤrchten, der
mir in jeder Stunde naͤher tritt, ich ſehe ihm
mit feſten Augen, ja mit einer Art von Sehn-
ſucht entgegen. Jeder Klang iſt verſunken, nur
eine innige Wehmuth ſchlaͤgt unermuͤdet ihre
Toͤne in mir an, ſo wie ſich jedes froͤhliche Ge-
raͤuſch in den ziehenden ernſten Kirchengeſang
verliert. Alle Gedanken ſind nach dem Grabe
hingerichtet, Sonnenaufgang und Untergang,
alle Erſcheinungen der Natur ſind mir Bothen,
die mich dorthin rufen. — Ich begreife die
Veraͤndrung nicht, die in mir vorgegangen iſt,
vieles ſteht verjuͤngt, wie in der Kindheit vor
mir, ja ich bin wieder zum Kinde geworden,
und gehe nun durch daſſelbe roſenrothe Thor
wieder aus dem Leben hinaus, durch welches
ich eintrat. So iſt mein ganzer Lebenslauf nur
ein Kreis geweſen, indem ich immer glaubte, in
grader Richtung fortzugehen. Die Welt mit
allen Freuden und Leiden liegt hinter mir, wie
ein weites Gebirge, das der Nebel unkenntlich
macht, nur das Thal, in welchem ich Ruhe

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[222/0228] muͤhſam an den feuchten Waͤnden zum Lichte empor arbeite. Nein, ich kann den Tod nicht fuͤrchten, der mir in jeder Stunde naͤher tritt, ich ſehe ihm mit feſten Augen, ja mit einer Art von Sehn- ſucht entgegen. Jeder Klang iſt verſunken, nur eine innige Wehmuth ſchlaͤgt unermuͤdet ihre Toͤne in mir an, ſo wie ſich jedes froͤhliche Ge- raͤuſch in den ziehenden ernſten Kirchengeſang verliert. Alle Gedanken ſind nach dem Grabe hingerichtet, Sonnenaufgang und Untergang, alle Erſcheinungen der Natur ſind mir Bothen, die mich dorthin rufen. — Ich begreife die Veraͤndrung nicht, die in mir vorgegangen iſt, vieles ſteht verjuͤngt, wie in der Kindheit vor mir, ja ich bin wieder zum Kinde geworden, und gehe nun durch daſſelbe roſenrothe Thor wieder aus dem Leben hinaus, durch welches ich eintrat. So iſt mein ganzer Lebenslauf nur ein Kreis geweſen, indem ich immer glaubte, in grader Richtung fortzugehen. Die Welt mit allen Freuden und Leiden liegt hinter mir, wie ein weites Gebirge, das der Nebel unkenntlich macht, nur das Thal, in welchem ich Ruhe

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/228>, abgerufen am 21.11.2024.