der Eitelkeit, Nachahmungssucht oder des Nei- des so deutlich durchblicken läßt, daß bei man- chen keine Täuschung möglich ist. --
Ich bin aus Langeweile einigemahl in's Theater gegangen. Tragödien voller Epigram- men, ohne Handlung und Empfindung, Tira- den, die mir gerade so vorkommen, wie auf al- ten Gemählden Worte den Personen aus dem Munde gehn, um sich deutlich zu machen, -- diese hertragirt, auf eine Art, daß man oft in Versuchung kömmt zu lachen; je mehr sich der Schauspieler von der Natur entfernt, je mehr wird er für einen großen Künstler gehalten, Kö- nige und Königinnen, Helden und Liebhaber sind mir noch nie in einem so armseeligen Lich- te erschienen, als auf der Pariser Bühne, -- kein Herz wird gerührt, keine Empfindung an- geschlagen, genug, man hört Reime klingeln und der Vorhang sagt einem am Ende doch, daß nun das Stück geschlossen sey, und so hat man, ohne zu wissen wie, ein chef d'oeuvre des größ- ten tragischen Genie's gesehn. -- O Sopho- kles! und göttlicher Shakespear! -- Wenn man den Busen mit euren Empfindungen ge-
der Eitelkeit, Nachahmungsſucht oder des Nei- des ſo deutlich durchblicken laͤßt, daß bei man- chen keine Taͤuſchung moͤglich iſt. —
Ich bin aus Langeweile einigemahl in’s Theater gegangen. Tragoͤdien voller Epigram- men, ohne Handlung und Empfindung, Tira- den, die mir gerade ſo vorkommen, wie auf al- ten Gemaͤhlden Worte den Perſonen aus dem Munde gehn, um ſich deutlich zu machen, — dieſe hertragirt, auf eine Art, daß man oft in Verſuchung koͤmmt zu lachen; je mehr ſich der Schauſpieler von der Natur entfernt, je mehr wird er fuͤr einen großen Kuͤnſtler gehalten, Koͤ- nige und Koͤniginnen, Helden und Liebhaber ſind mir noch nie in einem ſo armſeeligen Lich- te erſchienen, als auf der Pariſer Buͤhne, — kein Herz wird geruͤhrt, keine Empfindung an- geſchlagen, genug, man hoͤrt Reime klingeln und der Vorhang ſagt einem am Ende doch, daß nun das Stuͤck geſchloſſen ſey, und ſo hat man, ohne zu wiſſen wie, ein chef d’oeuvre des groͤß- ten tragiſchen Genie’s geſehn. — O Sopho- kles! und goͤttlicher Shakeſpear! — Wenn man den Buſen mit euren Empfindungen ge-
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[88[86]/0096]
der Eitelkeit, Nachahmungsſucht oder des Nei-
des ſo deutlich durchblicken laͤßt, daß bei man-
chen keine Taͤuſchung moͤglich iſt. —
Ich bin aus Langeweile einigemahl in’s
Theater gegangen. Tragoͤdien voller Epigram-
men, ohne Handlung und Empfindung, Tira-
den, die mir gerade ſo vorkommen, wie auf al-
ten Gemaͤhlden Worte den Perſonen aus dem
Munde gehn, um ſich deutlich zu machen, —
dieſe hertragirt, auf eine Art, daß man oft in
Verſuchung koͤmmt zu lachen; je mehr ſich der
Schauſpieler von der Natur entfernt, je mehr
wird er fuͤr einen großen Kuͤnſtler gehalten, Koͤ-
nige und Koͤniginnen, Helden und Liebhaber
ſind mir noch nie in einem ſo armſeeligen Lich-
te erſchienen, als auf der Pariſer Buͤhne, —
kein Herz wird geruͤhrt, keine Empfindung an-
geſchlagen, genug, man hoͤrt Reime klingeln und
der Vorhang ſagt einem am Ende doch, daß
nun das Stuͤck geſchloſſen ſey, und ſo hat man,
ohne zu wiſſen wie, ein chef d’oeuvre des groͤß-
ten tragiſchen Genie’s geſehn. — O Sopho-
kles! und goͤttlicher Shakeſpear! — Wenn
man den Buſen mit euren Empfindungen ge-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 88[86]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/96>, abgerufen am 22.11.2024.
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