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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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den Lichtstrahl des Tages erblickte, klüger ist
als wir alle. Die Seele weiß noch nicht die
ihr aufgeladenen Sinne und Organe zu gebrau-
chen, die Erinnerung ihres vorigen Zustandes
steht ihr noch ganz nahe, sie tritt in eine Welt
die sie nicht kennt und die ihrer Kenntniß un-
würdig ist; sie muß ihren höhern eigenthümli-
chen Verstand vergessen, um sich mühsam in
vielen Jahren in die bunte Vermischung von
Irrthümern einzulernen, die die Menschen Ver-
nunft nennen. -- Vielleicht, daß ich wieder da-
hin zurückkommen kann, wo ich war, als ich
geboren ward.

Vergieb mir mein Geschwätz, das Dir viel-
leicht überdies unverständlich ist; aber komm zu
mir, komm! o laß mich nicht vergebens bitten.

Ich habe schreckliche Träume, die mir alle
Kräfte rauben, und fürchterlich ist es, daß ich
auch im Wachen träume. Heere von Unge-
heuern ziehn mir vorüber und grinsen mich an,
wie ein heulender Wassersturz fallen Gräslich-
keiten auf mich herab und zermalmen mich. Ich
schlafe nicht und kann nicht wachen: wenn ich
schlafe, ängstigt mich meine boshafte Phantasie,
ich wache dann auf und kann nicht erwachen,

den Lichtſtrahl des Tages erblickte, kluͤger iſt
als wir alle. Die Seele weiß noch nicht die
ihr aufgeladenen Sinne und Organe zu gebrau-
chen, die Erinnerung ihres vorigen Zuſtandes
ſteht ihr noch ganz nahe, ſie tritt in eine Welt
die ſie nicht kennt und die ihrer Kenntniß un-
wuͤrdig iſt; ſie muß ihren hoͤhern eigenthuͤmli-
chen Verſtand vergeſſen, um ſich muͤhſam in
vielen Jahren in die bunte Vermiſchung von
Irrthuͤmern einzulernen, die die Menſchen Ver-
nunft nennen. — Vielleicht, daß ich wieder da-
hin zuruͤckkommen kann, wo ich war, als ich
geboren ward.

Vergieb mir mein Geſchwaͤtz, das Dir viel-
leicht uͤberdies unverſtaͤndlich iſt; aber komm zu
mir, komm! o laß mich nicht vergebens bitten.

Ich habe ſchreckliche Traͤume, die mir alle
Kraͤfte rauben, und fuͤrchterlich iſt es, daß ich
auch im Wachen traͤume. Heere von Unge-
heuern ziehn mir voruͤber und grinſen mich an,
wie ein heulender Waſſerſturz fallen Graͤslich-
keiten auf mich herab und zermalmen mich. Ich
ſchlafe nicht und kann nicht wachen: wenn ich
ſchlafe, aͤngſtigt mich meine boshafte Phantaſie,
ich wache dann auf und kann nicht erwachen,

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[332[330]/0340] den Lichtſtrahl des Tages erblickte, kluͤger iſt als wir alle. Die Seele weiß noch nicht die ihr aufgeladenen Sinne und Organe zu gebrau- chen, die Erinnerung ihres vorigen Zuſtandes ſteht ihr noch ganz nahe, ſie tritt in eine Welt die ſie nicht kennt und die ihrer Kenntniß un- wuͤrdig iſt; ſie muß ihren hoͤhern eigenthuͤmli- chen Verſtand vergeſſen, um ſich muͤhſam in vielen Jahren in die bunte Vermiſchung von Irrthuͤmern einzulernen, die die Menſchen Ver- nunft nennen. — Vielleicht, daß ich wieder da- hin zuruͤckkommen kann, wo ich war, als ich geboren ward. Vergieb mir mein Geſchwaͤtz, das Dir viel- leicht uͤberdies unverſtaͤndlich iſt; aber komm zu mir, komm! o laß mich nicht vergebens bitten. Ich habe ſchreckliche Traͤume, die mir alle Kraͤfte rauben, und fuͤrchterlich iſt es, daß ich auch im Wachen traͤume. Heere von Unge- heuern ziehn mir voruͤber und grinſen mich an, wie ein heulender Waſſerſturz fallen Graͤslich- keiten auf mich herab und zermalmen mich. Ich ſchlafe nicht und kann nicht wachen: wenn ich ſchlafe, aͤngſtigt mich meine boshafte Phantaſie, ich wache dann auf und kann nicht erwachen,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 332[330]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/340>, abgerufen am 25.11.2024.