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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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Als Kind stand ich oft mit Ehrfurcht und ahn-
dender Seele vor dem Klavier meiner Eltern
und betrachtete stumm und unverwandt den
künstlich ausgeschnitzten Stern des Resonanzbo-
dens; ich sahe scheu durch ihn in die Dunkel-
heit hinein, weil ich wähnte, dort unten wohne
der Genius des Gesanges, der leise mit den
Flügeln rausche, wenn die Tasten angeschlagen
würden. Ich sah ihn oft in meinen Gedanken
emporsteigen, wie er leise schwebend von seinen
süßen Tönen getragen wird und immer höher
und höher steigt und ein glänzendes Gewimmel
von Harmonien sich um ihn versammelt, dann
wieder still und langsam in seine Tiefe hinab-
sinkt und schweigend unten wohnt. -- Als ich
älter ward, dachte ich oft mit Lächeln an diese
seltsame Idee meiner Kindheit und fühlte mich,
wunder wie klug! -- Aber verstand ich darum
die Entstehung und seltsame Wirkung der Töne?

So kommen mir izt mehr Ideen aus mei-
nen frühesten Jahren wieder; ich sehe ein, daß
ich izt eben so mit ahndender, ungewisser Seele
vor dem Räthsel meiner Bestimmung und der
Beschaffenheit meines Wesens stehe. -- Viel-
leicht, daß das Kind, das im ersten Augenblicke

Als Kind ſtand ich oft mit Ehrfurcht und ahn-
dender Seele vor dem Klavier meiner Eltern
und betrachtete ſtumm und unverwandt den
kuͤnſtlich ausgeſchnitzten Stern des Reſonanzbo-
dens; ich ſahe ſcheu durch ihn in die Dunkel-
heit hinein, weil ich waͤhnte, dort unten wohne
der Genius des Geſanges, der leiſe mit den
Fluͤgeln rauſche, wenn die Taſten angeſchlagen
wuͤrden. Ich ſah ihn oft in meinen Gedanken
emporſteigen, wie er leiſe ſchwebend von ſeinen
ſuͤßen Toͤnen getragen wird und immer hoͤher
und hoͤher ſteigt und ein glaͤnzendes Gewimmel
von Harmonien ſich um ihn verſammelt, dann
wieder ſtill und langſam in ſeine Tiefe hinab-
ſinkt und ſchweigend unten wohnt. — Als ich
aͤlter ward, dachte ich oft mit Laͤcheln an dieſe
ſeltſame Idee meiner Kindheit und fuͤhlte mich,
wunder wie klug! — Aber verſtand ich darum
die Entſtehung und ſeltſame Wirkung der Toͤne?

So kommen mir izt mehr Ideen aus mei-
nen fruͤheſten Jahren wieder; ich ſehe ein, daß
ich izt eben ſo mit ahndender, ungewiſſer Seele
vor dem Raͤthſel meiner Beſtimmung und der
Beſchaffenheit meines Weſens ſtehe. — Viel-
leicht, daß das Kind, das im erſten Augenblicke

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[331[329]/0339] Als Kind ſtand ich oft mit Ehrfurcht und ahn- dender Seele vor dem Klavier meiner Eltern und betrachtete ſtumm und unverwandt den kuͤnſtlich ausgeſchnitzten Stern des Reſonanzbo- dens; ich ſahe ſcheu durch ihn in die Dunkel- heit hinein, weil ich waͤhnte, dort unten wohne der Genius des Geſanges, der leiſe mit den Fluͤgeln rauſche, wenn die Taſten angeſchlagen wuͤrden. Ich ſah ihn oft in meinen Gedanken emporſteigen, wie er leiſe ſchwebend von ſeinen ſuͤßen Toͤnen getragen wird und immer hoͤher und hoͤher ſteigt und ein glaͤnzendes Gewimmel von Harmonien ſich um ihn verſammelt, dann wieder ſtill und langſam in ſeine Tiefe hinab- ſinkt und ſchweigend unten wohnt. — Als ich aͤlter ward, dachte ich oft mit Laͤcheln an dieſe ſeltſame Idee meiner Kindheit und fuͤhlte mich, wunder wie klug! — Aber verſtand ich darum die Entſtehung und ſeltſame Wirkung der Toͤne? So kommen mir izt mehr Ideen aus mei- nen fruͤheſten Jahren wieder; ich ſehe ein, daß ich izt eben ſo mit ahndender, ungewiſſer Seele vor dem Raͤthſel meiner Beſtimmung und der Beſchaffenheit meines Weſens ſtehe. — Viel- leicht, daß das Kind, das im erſten Augenblicke

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 331[329]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/339>, abgerufen am 10.05.2024.