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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr,
das war zu den Zeiten unsers Herrn, und das ist
zu allen Zeiten der Gipfel menschlicher Tugend!
Und schnell sinkt er bis zu der untersten Stufe,
bis zu der tiefsten Tiefe des Unglaubens herab.
In diesem Abgrund scheint er zu versinken, und
bald steht er auf seiner vorigen Höhe; noch
schwankt sein Fuß, aber er strauchelt nicht mehr,
oder er strauchelt seinen Weg geschwinder fort, wie
der Bedächtige ihn geht. Er scheint der herzlich-
ste, feurigste Bekenner des Herrn zu sein, und er
wird sein herzlosester, kältester, nein vielmehr eif-
rigster Verläugner. Nun scheint er ganz sich
von ihm losgesagt zu haben, und, im Augenblikke
dieser höchsten Lossagung, verbindet er sich wie-
der mit ihm aufs innigste und unzertrennlichste.
Mit ein paar Schwertern greift er eine ganze, be-
wafnete, Schaar an, um den, schon gefangnen,
Jesus zu vertheidigen, und bebt zurük vor der,
kaum spizzigen, Anrede einer einzelnen Magd, um
die Freiheit, die er nicht mehr hatte, nicht mit Ge-
fangenschaft zu vertauschen. Vor einigen Bedien-
ten,
die vielleicht ihm nichts anhaben wollten, zit-
tert er, und den ganzen hohen Rath, der gewis
ihn zu Grunde richten konnte, macht er zittern.

Bei diesem Wechsel der Gesinnung, der doch,
in ieder seiner Aeusserungen, von dem Verdachte
der Falschheit sich reinigt, welche Gefühle wechsel-
ten da in seinem, und, bei der theilnehmenden Wahr-
nehmung dieses Wechsels, welche Empfindungen
wechseln da in unserm Herzen! Und was macht
es für einen Eindruk auf uns, wenn wir diesen

Mann

Unſer Herr,
das war zu den Zeiten unſers Herrn, und das iſt
zu allen Zeiten der Gipfel menſchlicher Tugend!
Und ſchnell ſinkt er bis zu der unterſten Stufe,
bis zu der tiefſten Tiefe des Unglaubens herab.
In dieſem Abgrund ſcheint er zu verſinken, und
bald ſteht er auf ſeiner vorigen Höhe; noch
ſchwankt ſein Fuß, aber er ſtrauchelt nicht mehr,
oder er ſtrauchelt ſeinen Weg geſchwinder fort, wie
der Bedächtige ihn geht. Er ſcheint der herzlich-
ſte, feurigſte Bekenner des Herrn zu ſein, und er
wird ſein herzloſeſter, kälteſter, nein vielmehr eif-
rigſter Verläugner. Nun ſcheint er ganz ſich
von ihm losgeſagt zu haben, und, im Augenblikke
dieſer höchſten Losſagung, verbindet er ſich wie-
der mit ihm aufs innigſte und unzertrennlichſte.
Mit ein paar Schwertern greift er eine ganze, be-
wafnete, Schaar an, um den, ſchon gefangnen,
Jeſus zu vertheidigen, und bebt zurük vor der,
kaum ſpizzigen, Anrede einer einzelnen Magd, um
die Freiheit, die er nicht mehr hatte, nicht mit Ge-
fangenſchaft zu vertauſchen. Vor einigen Bedien-
ten,
die vielleicht ihm nichts anhaben wollten, zit-
tert er, und den ganzen hohen Rath, der gewis
ihn zu Grunde richten konnte, macht er zittern.

Bei dieſem Wechſel der Geſinnung, der doch,
in ieder ſeiner Aeuſſerungen, von dem Verdachte
der Falſchheit ſich reinigt, welche Gefühle wechſel-
ten da in ſeinem, und, bei der theilnehmenden Wahr-
nehmung dieſes Wechſels, welche Empfindungen
wechſeln da in unſerm Herzen! Und was macht
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[180/0194] Unſer Herr, das war zu den Zeiten unſers Herrn, und das iſt zu allen Zeiten der Gipfel menſchlicher Tugend! Und ſchnell ſinkt er bis zu der unterſten Stufe, bis zu der tiefſten Tiefe des Unglaubens herab. In dieſem Abgrund ſcheint er zu verſinken, und bald ſteht er auf ſeiner vorigen Höhe; noch ſchwankt ſein Fuß, aber er ſtrauchelt nicht mehr, oder er ſtrauchelt ſeinen Weg geſchwinder fort, wie der Bedächtige ihn geht. Er ſcheint der herzlich- ſte, feurigſte Bekenner des Herrn zu ſein, und er wird ſein herzloſeſter, kälteſter, nein vielmehr eif- rigſter Verläugner. Nun ſcheint er ganz ſich von ihm losgeſagt zu haben, und, im Augenblikke dieſer höchſten Losſagung, verbindet er ſich wie- der mit ihm aufs innigſte und unzertrennlichſte. Mit ein paar Schwertern greift er eine ganze, be- wafnete, Schaar an, um den, ſchon gefangnen, Jeſus zu vertheidigen, und bebt zurük vor der, kaum ſpizzigen, Anrede einer einzelnen Magd, um die Freiheit, die er nicht mehr hatte, nicht mit Ge- fangenſchaft zu vertauſchen. Vor einigen Bedien- ten, die vielleicht ihm nichts anhaben wollten, zit- tert er, und den ganzen hohen Rath, der gewis ihn zu Grunde richten konnte, macht er zittern. Bei dieſem Wechſel der Geſinnung, der doch, in ieder ſeiner Aeuſſerungen, von dem Verdachte der Falſchheit ſich reinigt, welche Gefühle wechſel- ten da in ſeinem, und, bei der theilnehmenden Wahr- nehmung dieſes Wechſels, welche Empfindungen wechſeln da in unſerm Herzen! Und was macht es für einen Eindruk auf uns, wenn wir dieſen Mann

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/194>, abgerufen am 25.11.2024.