Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
und Entwickelung des Menschen.

So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs-
mittel auf ein gewisses Maß an, unter und über dem
es mehr schadet als frommet. Jst das thierische Leben
versorget, so hat nun der Geist Muße seine übrigen
Vermögen zu entfalten. Aber ist das Nöthige für den
Körper zu leicht erhalten, so kann der gesättigte Mensch
so leicht sich der Trägheit ergeben oder auf niedre Wol-
lust gerathen, als sich zu edlern Unterhaltungen erhe-
ben. Hat er sich jenes durch anhaltenden Fleiß ver-
schaffet, und kann es auch nur durch die Fortsetzung der
Arbeit erhalten werden: wie leicht ist es, daß er bloß
ein fleißiges, arbeitsames und genießendes Thier wird,
aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß
und Muße: wie viel Unkraut schießt nicht auf, wodurch
die Entwickelung der höhern und feinern Vermögen zu-
rückgehalten oder ersticket wird? Es giebt eine gewisse
Grenze des Wohlstandes, welche die angemessenste ist.
Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, so daß es auf
einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je
nachdem die übrigen moralischen Umstände beschaffen
sind. Gleichwohl lehret die Geschichte, wie geschwind
ein Volk über die gedachte Grenze wegschreitet, und
wie schnell die schädlichen Wirkungen des Ueberflusses
eintreten, so bald die Hindernisse der Entwickelungen,
die aus Mangel und Armuth entstehen, gehoben sind.
Am längsten sind noch diejenigen Völker vor der mora-
lischen Verderbniß bewahret worden, deren äußerer
Wohlstand öfters kleinere Abwechselungen erlitte, die
seinen Gleichstand nicht zu sehr veränderten.

Dasselbige läßt sich bey allen übrigen Vervollkomm-
nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu-
tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn
auch düstere Ahndungen? Dennoch ist der Trieb zur
Entwickelung an allen Seiten jetzo sehr stark, wenig-
stens so stark, als in einem andern Zeitalter; und ich

meine,
D d d 3
und Entwickelung des Menſchen.

So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs-
mittel auf ein gewiſſes Maß an, unter und uͤber dem
es mehr ſchadet als frommet. Jſt das thieriſche Leben
verſorget, ſo hat nun der Geiſt Muße ſeine uͤbrigen
Vermoͤgen zu entfalten. Aber iſt das Noͤthige fuͤr den
Koͤrper zu leicht erhalten, ſo kann der geſaͤttigte Menſch
ſo leicht ſich der Traͤgheit ergeben oder auf niedre Wol-
luſt gerathen, als ſich zu edlern Unterhaltungen erhe-
ben. Hat er ſich jenes durch anhaltenden Fleiß ver-
ſchaffet, und kann es auch nur durch die Fortſetzung der
Arbeit erhalten werden: wie leicht iſt es, daß er bloß
ein fleißiges, arbeitſames und genießendes Thier wird,
aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß
und Muße: wie viel Unkraut ſchießt nicht auf, wodurch
die Entwickelung der hoͤhern und feinern Vermoͤgen zu-
ruͤckgehalten oder erſticket wird? Es giebt eine gewiſſe
Grenze des Wohlſtandes, welche die angemeſſenſte iſt.
Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, ſo daß es auf
einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je
nachdem die uͤbrigen moraliſchen Umſtaͤnde beſchaffen
ſind. Gleichwohl lehret die Geſchichte, wie geſchwind
ein Volk uͤber die gedachte Grenze wegſchreitet, und
wie ſchnell die ſchaͤdlichen Wirkungen des Ueberfluſſes
eintreten, ſo bald die Hinderniſſe der Entwickelungen,
die aus Mangel und Armuth entſtehen, gehoben ſind.
Am laͤngſten ſind noch diejenigen Voͤlker vor der mora-
liſchen Verderbniß bewahret worden, deren aͤußerer
Wohlſtand oͤfters kleinere Abwechſelungen erlitte, die
ſeinen Gleichſtand nicht zu ſehr veraͤnderten.

Daſſelbige laͤßt ſich bey allen uͤbrigen Vervollkomm-
nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu-
tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn
auch duͤſtere Ahndungen? Dennoch iſt der Trieb zur
Entwickelung an allen Seiten jetzo ſehr ſtark, wenig-
ſtens ſo ſtark, als in einem andern Zeitalter; und ich

meine,
D d d 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0819" n="789"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi> </fw><lb/>
            <p>So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs-<lb/>
mittel auf ein gewi&#x017F;&#x017F;es <hi rendition="#fr">Maß</hi> an, unter und u&#x0364;ber dem<lb/>
es mehr &#x017F;chadet als frommet. J&#x017F;t das thieri&#x017F;che Leben<lb/>
ver&#x017F;orget, &#x017F;o hat nun der Gei&#x017F;t Muße &#x017F;eine u&#x0364;brigen<lb/>
Vermo&#x0364;gen zu entfalten. Aber i&#x017F;t das No&#x0364;thige fu&#x0364;r den<lb/>
Ko&#x0364;rper zu leicht erhalten, &#x017F;o kann der ge&#x017F;a&#x0364;ttigte Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;o leicht &#x017F;ich der Tra&#x0364;gheit ergeben oder auf niedre Wol-<lb/>
lu&#x017F;t gerathen, als &#x017F;ich zu edlern Unterhaltungen erhe-<lb/>
ben. Hat er &#x017F;ich jenes durch anhaltenden Fleiß ver-<lb/>
&#x017F;chaffet, und kann es auch nur durch die Fort&#x017F;etzung der<lb/>
Arbeit erhalten werden: wie leicht i&#x017F;t es, daß er bloß<lb/>
ein fleißiges, arbeit&#x017F;ames und genießendes Thier wird,<lb/>
aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß<lb/>
und Muße: wie viel Unkraut &#x017F;chießt nicht auf, wodurch<lb/>
die Entwickelung der ho&#x0364;hern und feinern Vermo&#x0364;gen zu-<lb/>
ru&#x0364;ckgehalten oder er&#x017F;ticket wird? Es giebt eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Grenze des Wohl&#x017F;tandes, welche die angeme&#x017F;&#x017F;en&#x017F;te i&#x017F;t.<lb/>
Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, &#x017F;o daß es auf<lb/>
einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je<lb/>
nachdem die u&#x0364;brigen morali&#x017F;chen Um&#x017F;ta&#x0364;nde be&#x017F;chaffen<lb/>
&#x017F;ind. Gleichwohl lehret die Ge&#x017F;chichte, wie ge&#x017F;chwind<lb/>
ein Volk u&#x0364;ber die gedachte Grenze weg&#x017F;chreitet, und<lb/>
wie &#x017F;chnell die &#x017F;cha&#x0364;dlichen Wirkungen des Ueberflu&#x017F;&#x017F;es<lb/>
eintreten, &#x017F;o bald die Hinderni&#x017F;&#x017F;e der Entwickelungen,<lb/>
die aus Mangel und Armuth ent&#x017F;tehen, gehoben &#x017F;ind.<lb/>
Am la&#x0364;ng&#x017F;ten &#x017F;ind noch diejenigen Vo&#x0364;lker vor der mora-<lb/>
li&#x017F;chen Verderbniß bewahret worden, deren a&#x0364;ußerer<lb/>
Wohl&#x017F;tand o&#x0364;fters kleinere Abwech&#x017F;elungen erlitte, die<lb/>
&#x017F;einen Gleich&#x017F;tand nicht zu &#x017F;ehr vera&#x0364;nderten.</p><lb/>
            <p>Da&#x017F;&#x017F;elbige la&#x0364;ßt &#x017F;ich bey allen u&#x0364;brigen Vervollkomm-<lb/>
nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu-<lb/>
tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn<lb/>
auch du&#x0364;&#x017F;tere Ahndungen? Dennoch i&#x017F;t der Trieb zur<lb/>
Entwickelung an allen Seiten jetzo &#x017F;ehr &#x017F;tark, wenig-<lb/>
&#x017F;tens &#x017F;o &#x017F;tark, als in einem andern Zeitalter; und ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d d 3</fw><fw place="bottom" type="catch">meine,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[789/0819] und Entwickelung des Menſchen. So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs- mittel auf ein gewiſſes Maß an, unter und uͤber dem es mehr ſchadet als frommet. Jſt das thieriſche Leben verſorget, ſo hat nun der Geiſt Muße ſeine uͤbrigen Vermoͤgen zu entfalten. Aber iſt das Noͤthige fuͤr den Koͤrper zu leicht erhalten, ſo kann der geſaͤttigte Menſch ſo leicht ſich der Traͤgheit ergeben oder auf niedre Wol- luſt gerathen, als ſich zu edlern Unterhaltungen erhe- ben. Hat er ſich jenes durch anhaltenden Fleiß ver- ſchaffet, und kann es auch nur durch die Fortſetzung der Arbeit erhalten werden: wie leicht iſt es, daß er bloß ein fleißiges, arbeitſames und genießendes Thier wird, aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß und Muße: wie viel Unkraut ſchießt nicht auf, wodurch die Entwickelung der hoͤhern und feinern Vermoͤgen zu- ruͤckgehalten oder erſticket wird? Es giebt eine gewiſſe Grenze des Wohlſtandes, welche die angemeſſenſte iſt. Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, ſo daß es auf einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je nachdem die uͤbrigen moraliſchen Umſtaͤnde beſchaffen ſind. Gleichwohl lehret die Geſchichte, wie geſchwind ein Volk uͤber die gedachte Grenze wegſchreitet, und wie ſchnell die ſchaͤdlichen Wirkungen des Ueberfluſſes eintreten, ſo bald die Hinderniſſe der Entwickelungen, die aus Mangel und Armuth entſtehen, gehoben ſind. Am laͤngſten ſind noch diejenigen Voͤlker vor der mora- liſchen Verderbniß bewahret worden, deren aͤußerer Wohlſtand oͤfters kleinere Abwechſelungen erlitte, die ſeinen Gleichſtand nicht zu ſehr veraͤnderten. Daſſelbige laͤßt ſich bey allen uͤbrigen Vervollkomm- nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu- tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn auch duͤſtere Ahndungen? Dennoch iſt der Trieb zur Entwickelung an allen Seiten jetzo ſehr ſtark, wenig- ſtens ſo ſtark, als in einem andern Zeitalter; und ich meine, D d d 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/819
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 789. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/819>, abgerufen am 18.05.2024.