Alle Vorschriften und Einrichtungen im Schul- und Er- ziehungswesen, so vortrefflich sie seyn mögen, arten in ein mechanisches, pedantisches Wesen aus, das nur ge- wisse Formen aufdrücket, höchstens eine einseitige Ent- wickelung schaffet, die nicht mehr den Werth der Ver- vollkommnung hat, worauf die erste Einrichtung hin- zielte. Dann mag noch immer das Gedächtniß mit ge- lehrten Kenntnissen, das Herz mit künstlichen Empfin- dungen, mit Standes- und Modenneigungen erfüllet werden: so kann die Vervollkommnung der Natur im Ganzen oftmals zurückbleiben, wenn Geschicklichkeiten, die Stand und Lebensart erfodern, andere verdrängen, die dem Menschen, obschon nicht dem Bürger, nützli- cher und wichtiger sind.
So ist es in allen übrigen Einrichtungen zur Ver- besserung der Menschheit. Dieselbige Denkungsart, die sich ihrer als Mittel zu diesem Zweck bedienet, muß auch in ihnen fortwirken, wenn sie bey aller ihrer gegen- wärtigen Güte nicht leicht und bald, obgleich einige fe- ster sind als andere, eine falsche Richtung nehmen sollen. Nun aber ist jenes die Denkungsart des klein- sten Theils. Der größere hat kein Jnteresse an der Vervollkommnung der Menschheit. Manche würden gar in einer Welt nicht leben mögen, wo alles herum klüger, tugendhafter und weiser wäre, als sie selbst sind. Es ist ein Glück, daß solche so oft, ohne ihr Wissen und Willen, die Absicht der Edelgesinnten befördern helfen müssen. Jm Ganzen dauert der Krieg ewig zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Einsicht und Dummheit, zwischen Eigennutz und Wohlwollen, zwi- schen Weisheit und Thorheit, zwischen Tugend und Bosheit, zwischen Menschenliebe und Unterdrückungs- geist; und die Zahl der Streiter auf beiden Seiten ist gar sehr ungleich.
So
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Alle Vorſchriften und Einrichtungen im Schul- und Er- ziehungsweſen, ſo vortrefflich ſie ſeyn moͤgen, arten in ein mechaniſches, pedantiſches Weſen aus, das nur ge- wiſſe Formen aufdruͤcket, hoͤchſtens eine einſeitige Ent- wickelung ſchaffet, die nicht mehr den Werth der Ver- vollkommnung hat, worauf die erſte Einrichtung hin- zielte. Dann mag noch immer das Gedaͤchtniß mit ge- lehrten Kenntniſſen, das Herz mit kuͤnſtlichen Empfin- dungen, mit Standes- und Modenneigungen erfuͤllet werden: ſo kann die Vervollkommnung der Natur im Ganzen oftmals zuruͤckbleiben, wenn Geſchicklichkeiten, die Stand und Lebensart erfodern, andere verdraͤngen, die dem Menſchen, obſchon nicht dem Buͤrger, nuͤtzli- cher und wichtiger ſind.
So iſt es in allen uͤbrigen Einrichtungen zur Ver- beſſerung der Menſchheit. Dieſelbige Denkungsart, die ſich ihrer als Mittel zu dieſem Zweck bedienet, muß auch in ihnen fortwirken, wenn ſie bey aller ihrer gegen- waͤrtigen Guͤte nicht leicht und bald, obgleich einige fe- ſter ſind als andere, eine falſche Richtung nehmen ſollen. Nun aber iſt jenes die Denkungsart des klein- ſten Theils. Der groͤßere hat kein Jntereſſe an der Vervollkommnung der Menſchheit. Manche wuͤrden gar in einer Welt nicht leben moͤgen, wo alles herum kluͤger, tugendhafter und weiſer waͤre, als ſie ſelbſt ſind. Es iſt ein Gluͤck, daß ſolche ſo oft, ohne ihr Wiſſen und Willen, die Abſicht der Edelgeſinnten befoͤrdern helfen muͤſſen. Jm Ganzen dauert der Krieg ewig zwiſchen Vernunft und Unvernunft, zwiſchen Einſicht und Dummheit, zwiſchen Eigennutz und Wohlwollen, zwi- ſchen Weisheit und Thorheit, zwiſchen Tugend und Bosheit, zwiſchen Menſchenliebe und Unterdruͤckungs- geiſt; und die Zahl der Streiter auf beiden Seiten iſt gar ſehr ungleich.
So
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Alle Vorſchriften und Einrichtungen im Schul- und Er-
ziehungsweſen, ſo vortrefflich ſie ſeyn moͤgen, arten in
ein mechaniſches, pedantiſches Weſen aus, das nur ge-
wiſſe Formen aufdruͤcket, hoͤchſtens eine einſeitige Ent-
wickelung ſchaffet, die nicht mehr den Werth der Ver-
vollkommnung hat, worauf die erſte Einrichtung hin-
zielte. Dann mag noch immer das Gedaͤchtniß mit ge-
lehrten Kenntniſſen, das Herz mit kuͤnſtlichen Empfin-
dungen, mit Standes- und Modenneigungen erfuͤllet
werden: ſo kann die Vervollkommnung der Natur im
Ganzen oftmals zuruͤckbleiben, wenn Geſchicklichkeiten,
die Stand und Lebensart erfodern, andere verdraͤngen,
die dem Menſchen, obſchon nicht dem Buͤrger, nuͤtzli-
cher und wichtiger ſind.
So iſt es in allen uͤbrigen Einrichtungen zur Ver-
beſſerung der Menſchheit. Dieſelbige Denkungsart, die
ſich ihrer als Mittel zu dieſem Zweck bedienet, muß
auch in ihnen fortwirken, wenn ſie bey aller ihrer gegen-
waͤrtigen Guͤte nicht leicht und bald, obgleich einige fe-
ſter ſind als andere, eine falſche Richtung nehmen
ſollen. Nun aber iſt jenes die Denkungsart des klein-
ſten Theils. Der groͤßere hat kein Jntereſſe an der
Vervollkommnung der Menſchheit. Manche wuͤrden
gar in einer Welt nicht leben moͤgen, wo alles herum
kluͤger, tugendhafter und weiſer waͤre, als ſie ſelbſt ſind.
Es iſt ein Gluͤck, daß ſolche ſo oft, ohne ihr Wiſſen und
Willen, die Abſicht der Edelgeſinnten befoͤrdern helfen
muͤſſen. Jm Ganzen dauert der Krieg ewig zwiſchen
Vernunft und Unvernunft, zwiſchen Einſicht und
Dummheit, zwiſchen Eigennutz und Wohlwollen, zwi-
ſchen Weisheit und Thorheit, zwiſchen Tugend und
Bosheit, zwiſchen Menſchenliebe und Unterdruͤckungs-
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gar ſehr ungleich.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 788. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/818>, abgerufen am 24.11.2024.
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