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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
der Missionseifer heut zu Tage etwas erkaltet? Gleich-
wohl muß auch die andere Seite solcher Bekehrungen
nicht übersehen werden, an der sie wohlthätiger und
fruchtbarer erscheinen. Wenn auch die neue Wahrheit
in tausenden wie auf einen Felsen fällt, oder wie am We-
ge: so werden diese doch bloß dadurch, daß sie wahre
Jdeen statt falscher erhalten, nicht schlechter noch un-
glücklicher. Und einige einzelne Personen giebt es
doch, bey denen der Saame einen guten Boden antrift.
Die Hauptsache ist aber diese, daß, indem die Religions-
meynungen gebessert werden, zugleich auch das größte
Hinderniß gehoben wird, das der weitern Kultur und Auf-
klärung im Wege stehet. Dummheit und Aberglaube ist
die mächtigste Schutzgöttin der falschen Religionen, und
zugleich ein Riegel gegen die Entwickelung der Mensch-
heit. Das erste, obgleich verunstaltete Christenthum
hat doch bey den rohen Völkern in Norden den Weg
zur Aufklärung gemacht. Noch mehr ist die neuere Re-
ligionsveränderung zum wahren Fortkommen des gesun-
den Verstandes in Europa ein Werkzeug gewesen. So
ist es bey jedem Volke, das in der Kultur fortrücket.
Soll die Aufklärung festen Grund fassen, so muß das
Nachdenken sich auf Religionsgrundsätze erstrecken kön-
nen. Sonsten wird es schwerlich [la]nge und stark interes-
siren, daß Reiz und Aufmunterung genug dazu vorhan-
den sey. Die Wissenschaften bey den Saracenen muß-
ten nothwendig unterliegen, da sie mit dem Grundsatze
des Aberglaubens zu kämpfen hatten, was nicht im Ko-
ran stehe, sey zu wissen unnütz oder schädlich, und da
dieser Grund stehen blieb. Noch weniger ist zu erwar-
ten, daß rohere Völker weit kommen könnten, ehe nicht
ihre Religionsbegriffe gereiniget sind.

Es scheinet auch wirklich in den meisten Fällen der
kürzeste Weg zu seyn, wenn die Kultur der Wilden und
Barbaren bey der Religion zuerst angefangen wird.

Es

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Miſſionseifer heut zu Tage etwas erkaltet? Gleich-
wohl muß auch die andere Seite ſolcher Bekehrungen
nicht uͤberſehen werden, an der ſie wohlthaͤtiger und
fruchtbarer erſcheinen. Wenn auch die neue Wahrheit
in tauſenden wie auf einen Felſen faͤllt, oder wie am We-
ge: ſo werden dieſe doch bloß dadurch, daß ſie wahre
Jdeen ſtatt falſcher erhalten, nicht ſchlechter noch un-
gluͤcklicher. Und einige einzelne Perſonen giebt es
doch, bey denen der Saame einen guten Boden antrift.
Die Hauptſache iſt aber dieſe, daß, indem die Religions-
meynungen gebeſſert werden, zugleich auch das groͤßte
Hinderniß gehoben wird, das der weitern Kultur und Auf-
klaͤrung im Wege ſtehet. Dummheit und Aberglaube iſt
die maͤchtigſte Schutzgoͤttin der falſchen Religionen, und
zugleich ein Riegel gegen die Entwickelung der Menſch-
heit. Das erſte, obgleich verunſtaltete Chriſtenthum
hat doch bey den rohen Voͤlkern in Norden den Weg
zur Aufklaͤrung gemacht. Noch mehr iſt die neuere Re-
ligionsveraͤnderung zum wahren Fortkommen des geſun-
den Verſtandes in Europa ein Werkzeug geweſen. So
iſt es bey jedem Volke, das in der Kultur fortruͤcket.
Soll die Aufklaͤrung feſten Grund faſſen, ſo muß das
Nachdenken ſich auf Religionsgrundſaͤtze erſtrecken koͤn-
nen. Sonſten wird es ſchwerlich [la]nge und ſtark intereſ-
ſiren, daß Reiz und Aufmunterung genug dazu vorhan-
den ſey. Die Wiſſenſchaften bey den Saracenen muß-
ten nothwendig unterliegen, da ſie mit dem Grundſatze
des Aberglaubens zu kaͤmpfen hatten, was nicht im Ko-
ran ſtehe, ſey zu wiſſen unnuͤtz oder ſchaͤdlich, und da
dieſer Grund ſtehen blieb. Noch weniger iſt zu erwar-
ten, daß rohere Voͤlker weit kommen koͤnnten, ehe nicht
ihre Religionsbegriffe gereiniget ſind.

Es ſcheinet auch wirklich in den meiſten Faͤllen der
kuͤrzeſte Weg zu ſeyn, wenn die Kultur der Wilden und
Barbaren bey der Religion zuerſt angefangen wird.

Es
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[672/0702] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt der Miſſionseifer heut zu Tage etwas erkaltet? Gleich- wohl muß auch die andere Seite ſolcher Bekehrungen nicht uͤberſehen werden, an der ſie wohlthaͤtiger und fruchtbarer erſcheinen. Wenn auch die neue Wahrheit in tauſenden wie auf einen Felſen faͤllt, oder wie am We- ge: ſo werden dieſe doch bloß dadurch, daß ſie wahre Jdeen ſtatt falſcher erhalten, nicht ſchlechter noch un- gluͤcklicher. Und einige einzelne Perſonen giebt es doch, bey denen der Saame einen guten Boden antrift. Die Hauptſache iſt aber dieſe, daß, indem die Religions- meynungen gebeſſert werden, zugleich auch das groͤßte Hinderniß gehoben wird, das der weitern Kultur und Auf- klaͤrung im Wege ſtehet. Dummheit und Aberglaube iſt die maͤchtigſte Schutzgoͤttin der falſchen Religionen, und zugleich ein Riegel gegen die Entwickelung der Menſch- heit. Das erſte, obgleich verunſtaltete Chriſtenthum hat doch bey den rohen Voͤlkern in Norden den Weg zur Aufklaͤrung gemacht. Noch mehr iſt die neuere Re- ligionsveraͤnderung zum wahren Fortkommen des geſun- den Verſtandes in Europa ein Werkzeug geweſen. So iſt es bey jedem Volke, das in der Kultur fortruͤcket. Soll die Aufklaͤrung feſten Grund faſſen, ſo muß das Nachdenken ſich auf Religionsgrundſaͤtze erſtrecken koͤn- nen. Sonſten wird es ſchwerlich lange und ſtark intereſ- ſiren, daß Reiz und Aufmunterung genug dazu vorhan- den ſey. Die Wiſſenſchaften bey den Saracenen muß- ten nothwendig unterliegen, da ſie mit dem Grundſatze des Aberglaubens zu kaͤmpfen hatten, was nicht im Ko- ran ſtehe, ſey zu wiſſen unnuͤtz oder ſchaͤdlich, und da dieſer Grund ſtehen blieb. Noch weniger iſt zu erwar- ten, daß rohere Voͤlker weit kommen koͤnnten, ehe nicht ihre Religionsbegriffe gereiniget ſind. Es ſcheinet auch wirklich in den meiſten Faͤllen der kuͤrzeſte Weg zu ſeyn, wenn die Kultur der Wilden und Barbaren bey der Religion zuerſt angefangen wird. Es

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/702>, abgerufen am 27.11.2024.