Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
verbreiten, ist ebenfalls offenbar. Und man kann wie-
derum sagen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein-
zelnen Familien erblich werden, als unter den größern
Gattungen von Menschen vorkommen. Denn sogar
besondere Krankheiten, oder nähere Anlagen dazu, wer-
den fortgepflanzet.

Aber weil diese Besonderheiten sich doch in den fol-
genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, so ist
die allgemeine und beständige Verschiedenheit zwischen
den Menschengattungen dadurch noch nicht begreiflich
gemacht. Hiezu werden erstlich allgemeine Ursachen
erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken;
und zweytens beständig wirkende Ursachen, um die
Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier ist es auch, wo
man gemeiniglich mit den Beweisen für den zufälligen
Ursprung der Abweichungen etwas zu kurz kommt.
Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens-
art oder auch die Kunst, die die Köpfe bey einigen Völ-
kern platt macht, die Ohren verlängert, die Haut tät-
towirt, bey den Chinesern die Füße der Frauenzimmer
verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet;
wenn dieß die alleinigen und entscheidenden Ursachen von
der Farbe, Größe und Bildung eines Volkes sind: so
würden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen,
die dem Einflusse dieser Ursachen ausgesetzet sind, ihre
Wirkungen erfahren. Die Wirkung müßte ja so all-
gemein seyn, als die Ursachen. Aber nicht zu sagen,
daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum diesel-
ben Eigenschaften erblich werden: so wissen wir doch aus
so vielen Beyspielen, daß die angeführten Ursachen, das
Klima nämlich und die Nahrung, verändert werden kön-
nen, ohne daß sich die ihnen zugeschriebenen Wirkungen
verlieren; imgleichen daß jene Ursachen öfters eine sol-
che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher
erinnert ist, doch so viel geschlossen werden kann, daß

sie

und Entwickelung des Menſchen.
verbreiten, iſt ebenfalls offenbar. Und man kann wie-
derum ſagen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein-
zelnen Familien erblich werden, als unter den groͤßern
Gattungen von Menſchen vorkommen. Denn ſogar
beſondere Krankheiten, oder naͤhere Anlagen dazu, wer-
den fortgepflanzet.

Aber weil dieſe Beſonderheiten ſich doch in den fol-
genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, ſo iſt
die allgemeine und beſtaͤndige Verſchiedenheit zwiſchen
den Menſchengattungen dadurch noch nicht begreiflich
gemacht. Hiezu werden erſtlich allgemeine Urſachen
erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken;
und zweytens beſtaͤndig wirkende Urſachen, um die
Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier iſt es auch, wo
man gemeiniglich mit den Beweiſen fuͤr den zufaͤlligen
Urſprung der Abweichungen etwas zu kurz kommt.
Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens-
art oder auch die Kunſt, die die Koͤpfe bey einigen Voͤl-
kern platt macht, die Ohren verlaͤngert, die Haut taͤt-
towirt, bey den Chineſern die Fuͤße der Frauenzimmer
verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet;
wenn dieß die alleinigen und entſcheidenden Urſachen von
der Farbe, Groͤße und Bildung eines Volkes ſind: ſo
wuͤrden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen,
die dem Einfluſſe dieſer Urſachen ausgeſetzet ſind, ihre
Wirkungen erfahren. Die Wirkung muͤßte ja ſo all-
gemein ſeyn, als die Urſachen. Aber nicht zu ſagen,
daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum dieſel-
ben Eigenſchaften erblich werden: ſo wiſſen wir doch aus
ſo vielen Beyſpielen, daß die angefuͤhrten Urſachen, das
Klima naͤmlich und die Nahrung, veraͤndert werden koͤn-
nen, ohne daß ſich die ihnen zugeſchriebenen Wirkungen
verlieren; imgleichen daß jene Urſachen oͤfters eine ſol-
che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher
erinnert iſt, doch ſo viel geſchloſſen werden kann, daß

ſie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0603" n="573"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
verbreiten, i&#x017F;t ebenfalls offenbar. Und man kann wie-<lb/>
derum &#x017F;agen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein-<lb/>
zelnen Familien erblich werden, als unter den gro&#x0364;ßern<lb/>
Gattungen von Men&#x017F;chen vorkommen. Denn &#x017F;ogar<lb/>
be&#x017F;ondere Krankheiten, oder na&#x0364;here Anlagen dazu, wer-<lb/>
den fortgepflanzet.</p><lb/>
              <p>Aber weil die&#x017F;e Be&#x017F;onderheiten &#x017F;ich doch in den fol-<lb/>
genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
die allgemeine und be&#x017F;ta&#x0364;ndige Ver&#x017F;chiedenheit zwi&#x017F;chen<lb/>
den Men&#x017F;chengattungen dadurch noch nicht begreiflich<lb/>
gemacht. Hiezu werden er&#x017F;tlich <hi rendition="#fr">allgemeine Ur&#x017F;achen</hi><lb/>
erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken;<lb/>
und zweytens <hi rendition="#fr">be&#x017F;ta&#x0364;ndig wirkende</hi> Ur&#x017F;achen, um die<lb/>
Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier i&#x017F;t es auch, wo<lb/>
man gemeiniglich mit den Bewei&#x017F;en fu&#x0364;r den zufa&#x0364;lligen<lb/>
Ur&#x017F;prung der Abweichungen etwas zu kurz kommt.<lb/>
Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens-<lb/>
art oder auch die Kun&#x017F;t, die die Ko&#x0364;pfe bey einigen Vo&#x0364;l-<lb/>
kern platt macht, die Ohren verla&#x0364;ngert, die Haut ta&#x0364;t-<lb/>
towirt, bey den Chine&#x017F;ern die Fu&#x0364;ße der Frauenzimmer<lb/>
verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet;<lb/>
wenn dieß die alleinigen und ent&#x017F;cheidenden Ur&#x017F;achen von<lb/>
der Farbe, Gro&#x0364;ße und Bildung eines Volkes &#x017F;ind: &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen,<lb/>
die dem Einflu&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er Ur&#x017F;achen ausge&#x017F;etzet &#x017F;ind, ihre<lb/>
Wirkungen erfahren. Die Wirkung mu&#x0364;ßte ja &#x017F;o all-<lb/>
gemein &#x017F;eyn, als die Ur&#x017F;achen. Aber nicht zu &#x017F;agen,<lb/>
daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum die&#x017F;el-<lb/>
ben Eigen&#x017F;chaften erblich werden: &#x017F;o wi&#x017F;&#x017F;en wir doch aus<lb/>
&#x017F;o vielen Bey&#x017F;pielen, daß die angefu&#x0364;hrten Ur&#x017F;achen, das<lb/>
Klima na&#x0364;mlich und die Nahrung, vera&#x0364;ndert werden ko&#x0364;n-<lb/>
nen, ohne daß &#x017F;ich die ihnen zuge&#x017F;chriebenen Wirkungen<lb/>
verlieren; imgleichen daß jene Ur&#x017F;achen o&#x0364;fters eine &#x017F;ol-<lb/>
che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher<lb/>
erinnert i&#x017F;t, doch &#x017F;o viel ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden kann, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ie</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[573/0603] und Entwickelung des Menſchen. verbreiten, iſt ebenfalls offenbar. Und man kann wie- derum ſagen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein- zelnen Familien erblich werden, als unter den groͤßern Gattungen von Menſchen vorkommen. Denn ſogar beſondere Krankheiten, oder naͤhere Anlagen dazu, wer- den fortgepflanzet. Aber weil dieſe Beſonderheiten ſich doch in den fol- genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, ſo iſt die allgemeine und beſtaͤndige Verſchiedenheit zwiſchen den Menſchengattungen dadurch noch nicht begreiflich gemacht. Hiezu werden erſtlich allgemeine Urſachen erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken; und zweytens beſtaͤndig wirkende Urſachen, um die Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier iſt es auch, wo man gemeiniglich mit den Beweiſen fuͤr den zufaͤlligen Urſprung der Abweichungen etwas zu kurz kommt. Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens- art oder auch die Kunſt, die die Koͤpfe bey einigen Voͤl- kern platt macht, die Ohren verlaͤngert, die Haut taͤt- towirt, bey den Chineſern die Fuͤße der Frauenzimmer verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet; wenn dieß die alleinigen und entſcheidenden Urſachen von der Farbe, Groͤße und Bildung eines Volkes ſind: ſo wuͤrden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen, die dem Einfluſſe dieſer Urſachen ausgeſetzet ſind, ihre Wirkungen erfahren. Die Wirkung muͤßte ja ſo all- gemein ſeyn, als die Urſachen. Aber nicht zu ſagen, daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum dieſel- ben Eigenſchaften erblich werden: ſo wiſſen wir doch aus ſo vielen Beyſpielen, daß die angefuͤhrten Urſachen, das Klima naͤmlich und die Nahrung, veraͤndert werden koͤn- nen, ohne daß ſich die ihnen zugeſchriebenen Wirkungen verlieren; imgleichen daß jene Urſachen oͤfters eine ſol- che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher erinnert iſt, doch ſo viel geſchloſſen werden kann, daß ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/603
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/603>, abgerufen am 03.07.2024.