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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
stellungen, die einmal das Organ über die Maße ange-
griffen haben, nachher entweder gar nicht, oder doch
nicht mit derselbigen Leichtigkeit wiedererwecket werden
können. Dieß verursacht für die Seele ein Unvermö-
gen, mit solchen Jdeen sich zu beschäfftigen. Es gilt
aber dieses eben so wohl von solchen sinnlichen Bewe-
gungen im Gehirne, die zu den Jdeen von den Ak-
tionen
gehören, als von denen, die materielle Jdeen
der Gegenstände
sind.

Mit dieser Erklärung begnügt man sich gemeini-
glich. Aber so wohl der wahrscheinlichste Begrif von un-
serm Seelenwesen, als auch selbst die Erfahrungen ma-
chen es wenigstens vermuthlich, daß noch etwas mehre-
res, und zwar etwas Geistiges in der Seele selbst, dahin-
ter stecke. Die Schwäche, welche von einer zu starken
Anstrengung herrühret, erfodert noch ein Mittel mehr,
wenn sie gehoben werden soll, als Ruhe in dem Organ,
wodurch wahrscheinlich die körperliche Folge die meisten
Male gehoben wird. Denn es ist außerdieß erfoder-
lich, daß der unüberwindliche Widerwille, den wir ge-
gen eine Handlung gefaßt haben, unter der wir erliegen
müßten, durch eine Veränderung in der Jdeenassocia-
tion gehoben werde, die sich festsetzte, wo die Ermüdung
zu stark war.

Die allzustarke Anstrengung kann zuerst schon kei-
nen Zuwachs an Vermögen hervorbringen, weil jede
Aktion, sobald sie zu heftig wird, aufhöret eine selbst-
thätige
Aktion der Seele zu seyn. Die Jdeen von
den Objekten mögen uns noch vorschweben, und in ih-
ren Beziehungen auf einander noch gegenwärtig seyn,
und sich verbinden und trennen; aber wenn uns, wie
wir sagen, der Kopf zu warm wird, und das Geblüt
bey der Geisteswirkung sich erhitzet: so ist die Bearbei-
tung der Jdeen nun mehr ein Werk des Gehirns und
ein Spiel der aufgebrachten Lebensgeister, als eine

Wir-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſtellungen, die einmal das Organ uͤber die Maße ange-
griffen haben, nachher entweder gar nicht, oder doch
nicht mit derſelbigen Leichtigkeit wiedererwecket werden
koͤnnen. Dieß verurſacht fuͤr die Seele ein Unvermoͤ-
gen, mit ſolchen Jdeen ſich zu beſchaͤfftigen. Es gilt
aber dieſes eben ſo wohl von ſolchen ſinnlichen Bewe-
gungen im Gehirne, die zu den Jdeen von den Ak-
tionen
gehoͤren, als von denen, die materielle Jdeen
der Gegenſtaͤnde
ſind.

Mit dieſer Erklaͤrung begnuͤgt man ſich gemeini-
glich. Aber ſo wohl der wahrſcheinlichſte Begrif von un-
ſerm Seelenweſen, als auch ſelbſt die Erfahrungen ma-
chen es wenigſtens vermuthlich, daß noch etwas mehre-
res, und zwar etwas Geiſtiges in der Seele ſelbſt, dahin-
ter ſtecke. Die Schwaͤche, welche von einer zu ſtarken
Anſtrengung herruͤhret, erfodert noch ein Mittel mehr,
wenn ſie gehoben werden ſoll, als Ruhe in dem Organ,
wodurch wahrſcheinlich die koͤrperliche Folge die meiſten
Male gehoben wird. Denn es iſt außerdieß erfoder-
lich, daß der unuͤberwindliche Widerwille, den wir ge-
gen eine Handlung gefaßt haben, unter der wir erliegen
muͤßten, durch eine Veraͤnderung in der Jdeenaſſocia-
tion gehoben werde, die ſich feſtſetzte, wo die Ermuͤdung
zu ſtark war.

Die allzuſtarke Anſtrengung kann zuerſt ſchon kei-
nen Zuwachs an Vermoͤgen hervorbringen, weil jede
Aktion, ſobald ſie zu heftig wird, aufhoͤret eine ſelbſt-
thaͤtige
Aktion der Seele zu ſeyn. Die Jdeen von
den Objekten moͤgen uns noch vorſchweben, und in ih-
ren Beziehungen auf einander noch gegenwaͤrtig ſeyn,
und ſich verbinden und trennen; aber wenn uns, wie
wir ſagen, der Kopf zu warm wird, und das Gebluͤt
bey der Geiſteswirkung ſich erhitzet: ſo iſt die Bearbei-
tung der Jdeen nun mehr ein Werk des Gehirns und
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Wir-
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[406/0436] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſtellungen, die einmal das Organ uͤber die Maße ange- griffen haben, nachher entweder gar nicht, oder doch nicht mit derſelbigen Leichtigkeit wiedererwecket werden koͤnnen. Dieß verurſacht fuͤr die Seele ein Unvermoͤ- gen, mit ſolchen Jdeen ſich zu beſchaͤfftigen. Es gilt aber dieſes eben ſo wohl von ſolchen ſinnlichen Bewe- gungen im Gehirne, die zu den Jdeen von den Ak- tionen gehoͤren, als von denen, die materielle Jdeen der Gegenſtaͤnde ſind. Mit dieſer Erklaͤrung begnuͤgt man ſich gemeini- glich. Aber ſo wohl der wahrſcheinlichſte Begrif von un- ſerm Seelenweſen, als auch ſelbſt die Erfahrungen ma- chen es wenigſtens vermuthlich, daß noch etwas mehre- res, und zwar etwas Geiſtiges in der Seele ſelbſt, dahin- ter ſtecke. Die Schwaͤche, welche von einer zu ſtarken Anſtrengung herruͤhret, erfodert noch ein Mittel mehr, wenn ſie gehoben werden ſoll, als Ruhe in dem Organ, wodurch wahrſcheinlich die koͤrperliche Folge die meiſten Male gehoben wird. Denn es iſt außerdieß erfoder- lich, daß der unuͤberwindliche Widerwille, den wir ge- gen eine Handlung gefaßt haben, unter der wir erliegen muͤßten, durch eine Veraͤnderung in der Jdeenaſſocia- tion gehoben werde, die ſich feſtſetzte, wo die Ermuͤdung zu ſtark war. Die allzuſtarke Anſtrengung kann zuerſt ſchon kei- nen Zuwachs an Vermoͤgen hervorbringen, weil jede Aktion, ſobald ſie zu heftig wird, aufhoͤret eine ſelbſt- thaͤtige Aktion der Seele zu ſeyn. Die Jdeen von den Objekten moͤgen uns noch vorſchweben, und in ih- ren Beziehungen auf einander noch gegenwaͤrtig ſeyn, und ſich verbinden und trennen; aber wenn uns, wie wir ſagen, der Kopf zu warm wird, und das Gebluͤt bey der Geiſteswirkung ſich erhitzet: ſo iſt die Bearbei- tung der Jdeen nun mehr ein Werk des Gehirns und ein Spiel der aufgebrachten Lebensgeiſter, als eine Wir-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/436>, abgerufen am 19.05.2024.