daß die Entwickelung eines einzigen Vermögens, wenn solche über ein gewisses Maß gehet, der Entwickelung und Ausbildung im Ganzen schädlich werden könne. Dieß geschieht nur zu häufig, und verdienet unten noch etwas näher betrachtet zu werden. Es müssen also noth- wendig viele Exempel da seyn, daß Personen an Einer Seite sehr entwickelt sind, die es an andern wenig oder gar nicht sind. Aber deßwegen bleibet es für sich und ohne Ausnahme wahr, daß jede wahre Perfektion der Seele über ihre ganze Natur sich ausbreitet. Es geht den psychologischen Gesetzen wie den Gesetzen der Mecha- nik. Der erste Grundsatz, wornach jedweder Körper seine Bewegung, die er hat, immerfort behalten soll, bis eine äußere Ursache sie abändert, ist völlig allge- mein ohne Ausnahme, obgleich kein einziger Körper, dem wir Bewegungen beybringen, solche unveränder- lich behält. Die Ausnahmen haben ihre Ursachen, welche in der Regel selbst stehen, und sind eigentlich keine Aus- nahmen.
7.
Wie die Seelenvermögen bey ihrem Gebrauche zu- nehmen, und durch eine angemessene Uebung gestärket werden: so nehmen sie wieder ab durch den Nichtge- brauch, und werden geschwächt durch einen sol- chen Gebrauch, der übertrieben und unmäßig ist. Was es mit ihrer Abnahme für eine Bewandniß habe, welche dem Anwachs entgegenstehet, und ob solche wie eine Einwickelung anzusehen sey, soll noch unten beson- ders untersucht werden. Aber die eine Art der Schwä- chung, welche durch eine übertriebene Anstrengung ent- stehet, läßt sich hier schon am füglichsten erläutern.
Es ist ein Gesetz in dem Körper und auch in allen Organen der Seele, daß jede zu starke Spannung eine Erschlaffung hinterläßt. Daraus folget schon, daß Vor-
stellun-
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und Entwickelung des Menſchen.
daß die Entwickelung eines einzigen Vermoͤgens, wenn ſolche uͤber ein gewiſſes Maß gehet, der Entwickelung und Ausbildung im Ganzen ſchaͤdlich werden koͤnne. Dieß geſchieht nur zu haͤufig, und verdienet unten noch etwas naͤher betrachtet zu werden. Es muͤſſen alſo noth- wendig viele Exempel da ſeyn, daß Perſonen an Einer Seite ſehr entwickelt ſind, die es an andern wenig oder gar nicht ſind. Aber deßwegen bleibet es fuͤr ſich und ohne Ausnahme wahr, daß jede wahre Perfektion der Seele uͤber ihre ganze Natur ſich ausbreitet. Es geht den pſychologiſchen Geſetzen wie den Geſetzen der Mecha- nik. Der erſte Grundſatz, wornach jedweder Koͤrper ſeine Bewegung, die er hat, immerfort behalten ſoll, bis eine aͤußere Urſache ſie abaͤndert, iſt voͤllig allge- mein ohne Ausnahme, obgleich kein einziger Koͤrper, dem wir Bewegungen beybringen, ſolche unveraͤnder- lich behaͤlt. Die Ausnahmen haben ihre Urſachen, welche in der Regel ſelbſt ſtehen, und ſind eigentlich keine Aus- nahmen.
7.
Wie die Seelenvermoͤgen bey ihrem Gebrauche zu- nehmen, und durch eine angemeſſene Uebung geſtaͤrket werden: ſo nehmen ſie wieder ab durch den Nichtge- brauch, und werden geſchwaͤcht durch einen ſol- chen Gebrauch, der uͤbertrieben und unmaͤßig iſt. Was es mit ihrer Abnahme fuͤr eine Bewandniß habe, welche dem Anwachs entgegenſtehet, und ob ſolche wie eine Einwickelung anzuſehen ſey, ſoll noch unten beſon- ders unterſucht werden. Aber die eine Art der Schwaͤ- chung, welche durch eine uͤbertriebene Anſtrengung ent- ſtehet, laͤßt ſich hier ſchon am fuͤglichſten erlaͤutern.
Es iſt ein Geſetz in dem Koͤrper und auch in allen Organen der Seele, daß jede zu ſtarke Spannung eine Erſchlaffung hinterlaͤßt. Daraus folget ſchon, daß Vor-
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und Entwickelung des Menſchen.
daß die Entwickelung eines einzigen Vermoͤgens, wenn
ſolche uͤber ein gewiſſes Maß gehet, der Entwickelung
und Ausbildung im Ganzen ſchaͤdlich werden koͤnne.
Dieß geſchieht nur zu haͤufig, und verdienet unten noch
etwas naͤher betrachtet zu werden. Es muͤſſen alſo noth-
wendig viele Exempel da ſeyn, daß Perſonen an Einer
Seite ſehr entwickelt ſind, die es an andern wenig oder
gar nicht ſind. Aber deßwegen bleibet es fuͤr ſich und
ohne Ausnahme wahr, daß jede wahre Perfektion der
Seele uͤber ihre ganze Natur ſich ausbreitet. Es geht
den pſychologiſchen Geſetzen wie den Geſetzen der Mecha-
nik. Der erſte Grundſatz, wornach jedweder Koͤrper
ſeine Bewegung, die er hat, immerfort behalten ſoll,
bis eine aͤußere Urſache ſie abaͤndert, iſt voͤllig allge-
mein ohne Ausnahme, obgleich kein einziger Koͤrper,
dem wir Bewegungen beybringen, ſolche unveraͤnder-
lich behaͤlt. Die Ausnahmen haben ihre Urſachen, welche
in der Regel ſelbſt ſtehen, und ſind eigentlich keine Aus-
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Wie die Seelenvermoͤgen bey ihrem Gebrauche zu-
nehmen, und durch eine angemeſſene Uebung geſtaͤrket
werden: ſo nehmen ſie wieder ab durch den Nichtge-
brauch, und werden geſchwaͤcht durch einen ſol-
chen Gebrauch, der uͤbertrieben und unmaͤßig iſt.
Was es mit ihrer Abnahme fuͤr eine Bewandniß habe,
welche dem Anwachs entgegenſtehet, und ob ſolche wie
eine Einwickelung anzuſehen ſey, ſoll noch unten beſon-
ders unterſucht werden. Aber die eine Art der Schwaͤ-
chung, welche durch eine uͤbertriebene Anſtrengung ent-
ſtehet, laͤßt ſich hier ſchon am fuͤglichſten erlaͤutern.
Es iſt ein Geſetz in dem Koͤrper und auch in allen
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/435>, abgerufen am 22.11.2024.
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