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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
darf es für diese Verschiedenheiten in den Graden auch
keiner verschiedenen Fibern, sondern es würde genug
seyn, wenn die nämliche Fiber nur in verschiedenen Gra-
den der Stärke schwingen kann. Und dadurch könnte
die Zahl der besondern einzelnen Fibern schon um ein
großes heruntergesetzet werden. Allein der Beweis,
den Hr. Bonnet geführet hat, ist entweder nicht rich-
tig, oder er würde, wenn man ihn nur ein wenig än-
dert, noch mehr beweisen und eben so gut darthun, daß
auch jeder Grad einer Jmpression ihre eigene Fiber
erfodere, als daß jede verschiedene Jmpression derglei-
chen haben muß. Und überhaupt, wenn man etwas
genauer die Folgen überdenket, die aus diesem psycho-
logischen Fibersystem entspringen, man mag es, wie
man will, auf die eine oder die andere Art erklären: so
wird man es nicht so leicht finden, sich einen Mecha-
nismus vorzustellen, der zu allen unsern Jdeenassocia-
tionen hinreichet.*)

Der Beweis, den Hr. Bonnet für seinen gedachten
Grundsatz geführet hat, ist folgender. Eine und die
nämliche Fiber, -- sie mag als einfach angesehen wer-
den! -- die den Geruch der Rose aufgenommen hat,
kann den Eindruck von dem Geruch der Nelke nicht em-
pfangen, ohne daß ihre vorhergegangene Jmpression
von der Rose in diesen nachfolgenden Eindruck von der
Nelke einen Einfluß habe. Denn da die erste sinnliche
Bewegung von der Rose eine Leichtigkeit in der Fiber
hinterlassen hat erneuert zu werden, so muß ja, wenn
nun die nämliche Fiber von der Nelke modificirt wird,
jene erstere mit der letztern wieder hervorkommen. Ei-
ne Fiber, die schon eine Tendenz oder eine Leichtigkeit zu
einer sinnlichen Bewegung empfangen hat, darf nur auf
irgend eine Art sinnlich beweget werden, und es wird die

ihr
*) Erster Versuch XV.

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
darf es fuͤr dieſe Verſchiedenheiten in den Graden auch
keiner verſchiedenen Fibern, ſondern es wuͤrde genug
ſeyn, wenn die naͤmliche Fiber nur in verſchiedenen Gra-
den der Staͤrke ſchwingen kann. Und dadurch koͤnnte
die Zahl der beſondern einzelnen Fibern ſchon um ein
großes heruntergeſetzet werden. Allein der Beweis,
den Hr. Bonnet gefuͤhret hat, iſt entweder nicht rich-
tig, oder er wuͤrde, wenn man ihn nur ein wenig aͤn-
dert, noch mehr beweiſen und eben ſo gut darthun, daß
auch jeder Grad einer Jmpreſſion ihre eigene Fiber
erfodere, als daß jede verſchiedene Jmpreſſion derglei-
chen haben muß. Und uͤberhaupt, wenn man etwas
genauer die Folgen uͤberdenket, die aus dieſem pſycho-
logiſchen Fiberſyſtem entſpringen, man mag es, wie
man will, auf die eine oder die andere Art erklaͤren: ſo
wird man es nicht ſo leicht finden, ſich einen Mecha-
niſmus vorzuſtellen, der zu allen unſern Jdeenaſſocia-
tionen hinreichet.*)

Der Beweis, den Hr. Bonnet fuͤr ſeinen gedachten
Grundſatz gefuͤhret hat, iſt folgender. Eine und die
naͤmliche Fiber, — ſie mag als einfach angeſehen wer-
den! — die den Geruch der Roſe aufgenommen hat,
kann den Eindruck von dem Geruch der Nelke nicht em-
pfangen, ohne daß ihre vorhergegangene Jmpreſſion
von der Roſe in dieſen nachfolgenden Eindruck von der
Nelke einen Einfluß habe. Denn da die erſte ſinnliche
Bewegung von der Roſe eine Leichtigkeit in der Fiber
hinterlaſſen hat erneuert zu werden, ſo muß ja, wenn
nun die naͤmliche Fiber von der Nelke modificirt wird,
jene erſtere mit der letztern wieder hervorkommen. Ei-
ne Fiber, die ſchon eine Tendenz oder eine Leichtigkeit zu
einer ſinnlichen Bewegung empfangen hat, darf nur auf
irgend eine Art ſinnlich beweget werden, und es wird die

ihr
*) Erſter Verſuch XV.
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[258/0288] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen darf es fuͤr dieſe Verſchiedenheiten in den Graden auch keiner verſchiedenen Fibern, ſondern es wuͤrde genug ſeyn, wenn die naͤmliche Fiber nur in verſchiedenen Gra- den der Staͤrke ſchwingen kann. Und dadurch koͤnnte die Zahl der beſondern einzelnen Fibern ſchon um ein großes heruntergeſetzet werden. Allein der Beweis, den Hr. Bonnet gefuͤhret hat, iſt entweder nicht rich- tig, oder er wuͤrde, wenn man ihn nur ein wenig aͤn- dert, noch mehr beweiſen und eben ſo gut darthun, daß auch jeder Grad einer Jmpreſſion ihre eigene Fiber erfodere, als daß jede verſchiedene Jmpreſſion derglei- chen haben muß. Und uͤberhaupt, wenn man etwas genauer die Folgen uͤberdenket, die aus dieſem pſycho- logiſchen Fiberſyſtem entſpringen, man mag es, wie man will, auf die eine oder die andere Art erklaͤren: ſo wird man es nicht ſo leicht finden, ſich einen Mecha- niſmus vorzuſtellen, der zu allen unſern Jdeenaſſocia- tionen hinreichet. *) Der Beweis, den Hr. Bonnet fuͤr ſeinen gedachten Grundſatz gefuͤhret hat, iſt folgender. Eine und die naͤmliche Fiber, — ſie mag als einfach angeſehen wer- den! — die den Geruch der Roſe aufgenommen hat, kann den Eindruck von dem Geruch der Nelke nicht em- pfangen, ohne daß ihre vorhergegangene Jmpreſſion von der Roſe in dieſen nachfolgenden Eindruck von der Nelke einen Einfluß habe. Denn da die erſte ſinnliche Bewegung von der Roſe eine Leichtigkeit in der Fiber hinterlaſſen hat erneuert zu werden, ſo muß ja, wenn nun die naͤmliche Fiber von der Nelke modificirt wird, jene erſtere mit der letztern wieder hervorkommen. Ei- ne Fiber, die ſchon eine Tendenz oder eine Leichtigkeit zu einer ſinnlichen Bewegung empfangen hat, darf nur auf irgend eine Art ſinnlich beweget werden, und es wird die ihr *) Erſter Verſuch XV.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/288>, abgerufen am 28.11.2024.