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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
ihr geläufige Bewegung erneuert. Die Empfindung
von der Rose würde also in der Gestalt eines Phantas-
ma reproduciret werden, wenn der Eindruck von der
Nelke hinzukommt. Aber alsdenn müßten sich diese
zwo, zugleich in Einer Fiber vorhandenen, Bewegun-
gen mit einander vermischen, und in eine mittlere
Bewegung zusammenlaufen, die weder eine Bewe-
gung von der Nelke noch von der Rose ist, wie das
allgemeine Bewegungsgesetz von der Vereinigung zwoer
Seitenbewegungen zu einer dritten Diagonalbewegung,
die weder die Eine noch die andere von jenen allein ist,
es mit sich bringet. Daraus würde folgen, daß die
materielle Jdee von dem Geruch der Nelke nicht abge-
sondert genug von der Vorstellung, die zu der Rose ge-
höret, erhalten werden könne, sondern daß aus beiden
Jmpressionen zusammen nur Eine vermischte Jdee von
dem Geruch der Nelke durch den Geruch der Rose mo-
dificirt zurückbleibe, welches doch wider die Erfahrung
ist. Wir haben unterschiedene Jdeen von beiden, und
zwar auf dieselbige Art, es mag zuerst die Rose und
dann die Nelke, oder in umgekehrter Ordnung, gero-
chen worden seyn. Es ist also offenbar, daß jede be-
sondere Empfindung ihre eigene Gehirnsfiber erfodere,
die sie aufnimmt.

Gewiß hat der scharfsinnige Mann hier die Grund-
sätze der Mechanik nicht vorsichtig genug angewen-
det. Jch will das übergehen, was tiefere Untersuchun-
gen über die Bewegungen gespannter Saiten gelehret
haben. Es ist kein Zweifel, daß nicht mehrere verschie-
dene Schwingungen zu derselbigen Zeit in Einer Saite,
ohne einander zu stören, und ohne auch in Eine sich zu
vermischen, vorhanden seyn könnten. Wenn also die
Gehirnsfibern in dieser Hinsicht mit den Saiten ver-
glichen werden können: -- welches doch Hr. Bonnet

auch
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im Menſchen.
ihr gelaͤufige Bewegung erneuert. Die Empfindung
von der Roſe wuͤrde alſo in der Geſtalt eines Phantas-
ma reproduciret werden, wenn der Eindruck von der
Nelke hinzukommt. Aber alsdenn muͤßten ſich dieſe
zwo, zugleich in Einer Fiber vorhandenen, Bewegun-
gen mit einander vermiſchen, und in eine mittlere
Bewegung zuſammenlaufen, die weder eine Bewe-
gung von der Nelke noch von der Roſe iſt, wie das
allgemeine Bewegungsgeſetz von der Vereinigung zwoer
Seitenbewegungen zu einer dritten Diagonalbewegung,
die weder die Eine noch die andere von jenen allein iſt,
es mit ſich bringet. Daraus wuͤrde folgen, daß die
materielle Jdee von dem Geruch der Nelke nicht abge-
ſondert genug von der Vorſtellung, die zu der Roſe ge-
hoͤret, erhalten werden koͤnne, ſondern daß aus beiden
Jmpreſſionen zuſammen nur Eine vermiſchte Jdee von
dem Geruch der Nelke durch den Geruch der Roſe mo-
dificirt zuruͤckbleibe, welches doch wider die Erfahrung
iſt. Wir haben unterſchiedene Jdeen von beiden, und
zwar auf dieſelbige Art, es mag zuerſt die Roſe und
dann die Nelke, oder in umgekehrter Ordnung, gero-
chen worden ſeyn. Es iſt alſo offenbar, daß jede be-
ſondere Empfindung ihre eigene Gehirnsfiber erfodere,
die ſie aufnimmt.

Gewiß hat der ſcharfſinnige Mann hier die Grund-
ſaͤtze der Mechanik nicht vorſichtig genug angewen-
det. Jch will das uͤbergehen, was tiefere Unterſuchun-
gen uͤber die Bewegungen geſpannter Saiten gelehret
haben. Es iſt kein Zweifel, daß nicht mehrere verſchie-
dene Schwingungen zu derſelbigen Zeit in Einer Saite,
ohne einander zu ſtoͤren, und ohne auch in Eine ſich zu
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Gehirnsfibern in dieſer Hinſicht mit den Saiten ver-
glichen werden koͤnnen: — welches doch Hr. Bonnet

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[259/0289] im Menſchen. ihr gelaͤufige Bewegung erneuert. Die Empfindung von der Roſe wuͤrde alſo in der Geſtalt eines Phantas- ma reproduciret werden, wenn der Eindruck von der Nelke hinzukommt. Aber alsdenn muͤßten ſich dieſe zwo, zugleich in Einer Fiber vorhandenen, Bewegun- gen mit einander vermiſchen, und in eine mittlere Bewegung zuſammenlaufen, die weder eine Bewe- gung von der Nelke noch von der Roſe iſt, wie das allgemeine Bewegungsgeſetz von der Vereinigung zwoer Seitenbewegungen zu einer dritten Diagonalbewegung, die weder die Eine noch die andere von jenen allein iſt, es mit ſich bringet. Daraus wuͤrde folgen, daß die materielle Jdee von dem Geruch der Nelke nicht abge- ſondert genug von der Vorſtellung, die zu der Roſe ge- hoͤret, erhalten werden koͤnne, ſondern daß aus beiden Jmpreſſionen zuſammen nur Eine vermiſchte Jdee von dem Geruch der Nelke durch den Geruch der Roſe mo- dificirt zuruͤckbleibe, welches doch wider die Erfahrung iſt. Wir haben unterſchiedene Jdeen von beiden, und zwar auf dieſelbige Art, es mag zuerſt die Roſe und dann die Nelke, oder in umgekehrter Ordnung, gero- chen worden ſeyn. Es iſt alſo offenbar, daß jede be- ſondere Empfindung ihre eigene Gehirnsfiber erfodere, die ſie aufnimmt. Gewiß hat der ſcharfſinnige Mann hier die Grund- ſaͤtze der Mechanik nicht vorſichtig genug angewen- det. Jch will das uͤbergehen, was tiefere Unterſuchun- gen uͤber die Bewegungen geſpannter Saiten gelehret haben. Es iſt kein Zweifel, daß nicht mehrere verſchie- dene Schwingungen zu derſelbigen Zeit in Einer Saite, ohne einander zu ſtoͤren, und ohne auch in Eine ſich zu vermiſchen, vorhanden ſeyn koͤnnten. Wenn alſo die Gehirnsfibern in dieſer Hinſicht mit den Saiten ver- glichen werden koͤnnen: — welches doch Hr. Bonnet auch R 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/289>, abgerufen am 17.05.2024.