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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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andern verknüpft seyn, um die zusammengesetzten
Jdeen in so inniger Vereinigung aller ihrer einfachen
Theile, als einzelne Ganze, zu reproduciren. Jn so un-
zählig vielen Jdeen die Vorstellung von der weißen
Farbe ein Bestandtheil ist, so viele Verknüpfungen muß
die zu ihr gehörige Fiber mit andern haben.

Daher muß man gestehen, daß sowohl die letztere
Vorstellung von der Einrichtung des Gehirns, als die
erstere auf etwas Unendliches in der Feinheit, Man-
nichfaltigkeit und Verbindung der Fibern hinführe,
worinn unsere Phantasie sich verlieret. Wer die Natur
kennet, wird zwar hierauf keine Einwendung gründen,
da dieß Unübersehbare vielmehr das wahre Gepräge von
ihr und von der unendlichen Weisheit ihres Urhebers
ist; aber es ist doch auch gewiß, daß eine solche schein-
bare Unbegreiflichkeit einer Hypothese, die noch nichts
mehr ist, als dieses, nach den Gesetzen unsers Verstan-
des sie nicht empfehlen könne, zumal wenn sie nur
darum ergriffen wird, um einer andern auszuweichen,
der man auch nichts weiter als eine solche Unbegreiflich-
keit vorzuwerfen hat. Hr. Bonnet hat sich für das
erstere erkläret, daß nämlich jede einzelne verschiedene
Empfindung ihre eigene Fiber habe, von der die
materielle Jdee aufgenommen werde; aber er hat noch
mehr gethan, er hat es durch ein Raisonnement aus
Gründen zu erweisen gesucht, daß es sich auf diese Art
in dem Gehirn verhalten müsse. Dieser Beweis ver-
dienet eine Prüfung. Jch will sonsten gerne zugeben,
daß manche Schwierigkeiten, die sich beym ersten An-
blicke zeigen, nachhero sich heben lassen, wenn man die
Sache deutlicher entwickelt. Denn da bey so vielen ver-
schiedenen sinnlichen Jmpressionen ohne Zweifel ihre
ganze Verschiedenheit nur auf Grade ankommt, auf
eine größere oder geringere Jntension des Eindrucks,
der sonsten an und für sich derselbige seyn kann: so be-

darf
II Theil. R

im Menſchen.
andern verknuͤpft ſeyn, um die zuſammengeſetzten
Jdeen in ſo inniger Vereinigung aller ihrer einfachen
Theile, als einzelne Ganze, zu reproduciren. Jn ſo un-
zaͤhlig vielen Jdeen die Vorſtellung von der weißen
Farbe ein Beſtandtheil iſt, ſo viele Verknuͤpfungen muß
die zu ihr gehoͤrige Fiber mit andern haben.

Daher muß man geſtehen, daß ſowohl die letztere
Vorſtellung von der Einrichtung des Gehirns, als die
erſtere auf etwas Unendliches in der Feinheit, Man-
nichfaltigkeit und Verbindung der Fibern hinfuͤhre,
worinn unſere Phantaſie ſich verlieret. Wer die Natur
kennet, wird zwar hierauf keine Einwendung gruͤnden,
da dieß Unuͤberſehbare vielmehr das wahre Gepraͤge von
ihr und von der unendlichen Weisheit ihres Urhebers
iſt; aber es iſt doch auch gewiß, daß eine ſolche ſchein-
bare Unbegreiflichkeit einer Hypotheſe, die noch nichts
mehr iſt, als dieſes, nach den Geſetzen unſers Verſtan-
des ſie nicht empfehlen koͤnne, zumal wenn ſie nur
darum ergriffen wird, um einer andern auszuweichen,
der man auch nichts weiter als eine ſolche Unbegreiflich-
keit vorzuwerfen hat. Hr. Bonnet hat ſich fuͤr das
erſtere erklaͤret, daß naͤmlich jede einzelne verſchiedene
Empfindung ihre eigene Fiber habe, von der die
materielle Jdee aufgenommen werde; aber er hat noch
mehr gethan, er hat es durch ein Raiſonnement aus
Gruͤnden zu erweiſen geſucht, daß es ſich auf dieſe Art
in dem Gehirn verhalten muͤſſe. Dieſer Beweis ver-
dienet eine Pruͤfung. Jch will ſonſten gerne zugeben,
daß manche Schwierigkeiten, die ſich beym erſten An-
blicke zeigen, nachhero ſich heben laſſen, wenn man die
Sache deutlicher entwickelt. Denn da bey ſo vielen ver-
ſchiedenen ſinnlichen Jmpreſſionen ohne Zweifel ihre
ganze Verſchiedenheit nur auf Grade ankommt, auf
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darf
II Theil. R
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[257/0287] im Menſchen. andern verknuͤpft ſeyn, um die zuſammengeſetzten Jdeen in ſo inniger Vereinigung aller ihrer einfachen Theile, als einzelne Ganze, zu reproduciren. Jn ſo un- zaͤhlig vielen Jdeen die Vorſtellung von der weißen Farbe ein Beſtandtheil iſt, ſo viele Verknuͤpfungen muß die zu ihr gehoͤrige Fiber mit andern haben. Daher muß man geſtehen, daß ſowohl die letztere Vorſtellung von der Einrichtung des Gehirns, als die erſtere auf etwas Unendliches in der Feinheit, Man- nichfaltigkeit und Verbindung der Fibern hinfuͤhre, worinn unſere Phantaſie ſich verlieret. Wer die Natur kennet, wird zwar hierauf keine Einwendung gruͤnden, da dieß Unuͤberſehbare vielmehr das wahre Gepraͤge von ihr und von der unendlichen Weisheit ihres Urhebers iſt; aber es iſt doch auch gewiß, daß eine ſolche ſchein- bare Unbegreiflichkeit einer Hypotheſe, die noch nichts mehr iſt, als dieſes, nach den Geſetzen unſers Verſtan- des ſie nicht empfehlen koͤnne, zumal wenn ſie nur darum ergriffen wird, um einer andern auszuweichen, der man auch nichts weiter als eine ſolche Unbegreiflich- keit vorzuwerfen hat. Hr. Bonnet hat ſich fuͤr das erſtere erklaͤret, daß naͤmlich jede einzelne verſchiedene Empfindung ihre eigene Fiber habe, von der die materielle Jdee aufgenommen werde; aber er hat noch mehr gethan, er hat es durch ein Raiſonnement aus Gruͤnden zu erweiſen geſucht, daß es ſich auf dieſe Art in dem Gehirn verhalten muͤſſe. Dieſer Beweis ver- dienet eine Pruͤfung. Jch will ſonſten gerne zugeben, daß manche Schwierigkeiten, die ſich beym erſten An- blicke zeigen, nachhero ſich heben laſſen, wenn man die Sache deutlicher entwickelt. Denn da bey ſo vielen ver- ſchiedenen ſinnlichen Jmpreſſionen ohne Zweifel ihre ganze Verſchiedenheit nur auf Grade ankommt, auf eine groͤßere oder geringere Jntenſion des Eindrucks, der ſonſten an und fuͤr ſich derſelbige ſeyn kann: ſo be- darf II Theil. R

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/287>, abgerufen am 24.11.2024.