Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
"derselben, die sich nicht vorher instinktartig schon geäus-
"sert hätte, und gefühlet worden wäre." Wir haben
ja selbst Vorstellungen schon in uns gemacht, sie wieder
erwecket, sie gegen einander gestellet, verglichen, und
geurtheilet, ehe wir wissen, was dieß in uns sey, und
ehe wir eine Jdee davon haben könnten. Auf gleiche
Art müssen wir die Glieder des Körpers gebrauchet ha-
ben, ehe wir eine Jdee von diesen Bewegungen erlan-
gen können. Ehe wir uns einen Begriff machen von
einer Selbstbestimmung, von einem Entschlusse, sind
alle diese Handlungen schon vorher von uns verrichtet
worden. Auch hier bestätiget die Erfahrung den allge-
meinen Satz, daß jedwede Vorstellung eine vorherge-
gangene Empfindung erfodere, aus der sie genommen
worden ist. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von
Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir
können nicht fliegen, wie die Vögel, wir haben also auch
von dieser Aktion selbst keinen weitern Begriff, als nur
den von ihren Wirkungen, die empfunden worden sind,
nebst der unbestimmten Jdee von der Anstrengung der
Arme und der Füße, und von einer rudernden Bewe-
gung, dergleichen wir selbst empfunden haben. Die
Vorstellung ist bey uns eine selbstgemachte Fiktion. Was
das Schwimmen für eine Handlung sey, davon hat ei-
ner, der es nie selbst versucht, keine andere Vorstellung,
als ein Hottentotte von dem tiefsinnigen Nachdenken.

Dieser Satz also, "daß instinktartige Kraftäus-
serungen vorhergehen, ehe wir Vorstellungen
von ihnen haben
können," ist von einer gleichen Zu-
verläßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorstellungen vor-
hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieser letzte
Satz ist in dem Umfange wahr, in dem es wahr ist, daß
alle Vorstellungen nichts anders sind, als hinterbliebene
Spuren von absoluten Modifikationen, die vorher gefüh-
let worden sind.

Daher

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
„derſelben, die ſich nicht vorher inſtinktartig ſchon geaͤuſ-
„ſert haͤtte, und gefuͤhlet worden waͤre.‟ Wir haben
ja ſelbſt Vorſtellungen ſchon in uns gemacht, ſie wieder
erwecket, ſie gegen einander geſtellet, verglichen, und
geurtheilet, ehe wir wiſſen, was dieß in uns ſey, und
ehe wir eine Jdee davon haben koͤnnten. Auf gleiche
Art muͤſſen wir die Glieder des Koͤrpers gebrauchet ha-
ben, ehe wir eine Jdee von dieſen Bewegungen erlan-
gen koͤnnen. Ehe wir uns einen Begriff machen von
einer Selbſtbeſtimmung, von einem Entſchluſſe, ſind
alle dieſe Handlungen ſchon vorher von uns verrichtet
worden. Auch hier beſtaͤtiget die Erfahrung den allge-
meinen Satz, daß jedwede Vorſtellung eine vorherge-
gangene Empfindung erfodere, aus der ſie genommen
worden iſt. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von
Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir
koͤnnen nicht fliegen, wie die Voͤgel, wir haben alſo auch
von dieſer Aktion ſelbſt keinen weitern Begriff, als nur
den von ihren Wirkungen, die empfunden worden ſind,
nebſt der unbeſtimmten Jdee von der Anſtrengung der
Arme und der Fuͤße, und von einer rudernden Bewe-
gung, dergleichen wir ſelbſt empfunden haben. Die
Vorſtellung iſt bey uns eine ſelbſtgemachte Fiktion. Was
das Schwimmen fuͤr eine Handlung ſey, davon hat ei-
ner, der es nie ſelbſt verſucht, keine andere Vorſtellung,
als ein Hottentotte von dem tiefſinnigen Nachdenken.

Dieſer Satz alſo, „daß inſtinktartige Kraftaͤuſ-
ſerungen vorhergehen, ehe wir Vorſtellungen
von ihnen haben
koͤnnen,‟ iſt von einer gleichen Zu-
verlaͤßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorſtellungen vor-
hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieſer letzte
Satz iſt in dem Umfange wahr, in dem es wahr iſt, daß
alle Vorſtellungen nichts anders ſind, als hinterbliebene
Spuren von abſoluten Modifikationen, die vorher gefuͤh-
let worden ſind.

Daher
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0688" n="628"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
&#x201E;der&#x017F;elben, die &#x017F;ich nicht vorher in&#x017F;tinktartig &#x017F;chon gea&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ert ha&#x0364;tte, und gefu&#x0364;hlet worden wa&#x0364;re.&#x201F; Wir haben<lb/>
ja &#x017F;elb&#x017F;t Vor&#x017F;tellungen &#x017F;chon in uns gemacht, &#x017F;ie wieder<lb/>
erwecket, &#x017F;ie gegen einander ge&#x017F;tellet, verglichen, und<lb/>
geurtheilet, ehe wir wi&#x017F;&#x017F;en, was dieß in uns &#x017F;ey, und<lb/>
ehe wir eine Jdee davon haben ko&#x0364;nnten. Auf gleiche<lb/>
Art mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die Glieder des Ko&#x0364;rpers gebrauchet ha-<lb/>
ben, ehe wir eine Jdee von die&#x017F;en Bewegungen erlan-<lb/>
gen ko&#x0364;nnen. Ehe wir uns einen Begriff machen von<lb/>
einer Selb&#x017F;tbe&#x017F;timmung, von einem Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ind<lb/>
alle die&#x017F;e Handlungen &#x017F;chon vorher von uns verrichtet<lb/>
worden. Auch hier be&#x017F;ta&#x0364;tiget die Erfahrung den allge-<lb/>
meinen Satz, daß jedwede Vor&#x017F;tellung eine vorherge-<lb/>
gangene Empfindung erfodere, aus der &#x017F;ie genommen<lb/>
worden i&#x017F;t. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von<lb/>
Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir<lb/>
ko&#x0364;nnen nicht fliegen, wie die Vo&#x0364;gel, wir haben al&#x017F;o auch<lb/>
von die&#x017F;er Aktion &#x017F;elb&#x017F;t keinen weitern Begriff, als nur<lb/>
den von ihren Wirkungen, die empfunden worden &#x017F;ind,<lb/>
neb&#x017F;t der unbe&#x017F;timmten Jdee von der An&#x017F;trengung der<lb/>
Arme und der Fu&#x0364;ße, und von einer rudernden Bewe-<lb/>
gung, dergleichen wir &#x017F;elb&#x017F;t empfunden haben. Die<lb/>
Vor&#x017F;tellung i&#x017F;t bey uns eine &#x017F;elb&#x017F;tgemachte Fiktion. Was<lb/>
das Schwimmen fu&#x0364;r eine Handlung &#x017F;ey, davon hat ei-<lb/>
ner, der es nie &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;ucht, keine andere Vor&#x017F;tellung,<lb/>
als ein Hottentotte von dem tief&#x017F;innigen Nachdenken.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;er Satz al&#x017F;o, &#x201E;daß <hi rendition="#fr">in&#x017F;tinktartige Krafta&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erungen vorhergehen, ehe wir Vor&#x017F;tellungen<lb/>
von ihnen haben</hi> ko&#x0364;nnen,&#x201F; i&#x017F;t von einer gleichen Zu-<lb/>
verla&#x0364;ßigkeit, wie der Satz, daß alle Vor&#x017F;tellungen vor-<lb/>
hergehende Empfindungen erfodern. Aber die&#x017F;er letzte<lb/>
Satz i&#x017F;t in dem Umfange wahr, in dem es wahr i&#x017F;t, daß<lb/>
alle Vor&#x017F;tellungen nichts anders &#x017F;ind, als hinterbliebene<lb/>
Spuren von ab&#x017F;oluten Modifikationen, die vorher gefu&#x0364;h-<lb/>
let worden &#x017F;ind.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Daher</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[628/0688] X. Verſuch. Ueber die Beziehung „derſelben, die ſich nicht vorher inſtinktartig ſchon geaͤuſ- „ſert haͤtte, und gefuͤhlet worden waͤre.‟ Wir haben ja ſelbſt Vorſtellungen ſchon in uns gemacht, ſie wieder erwecket, ſie gegen einander geſtellet, verglichen, und geurtheilet, ehe wir wiſſen, was dieß in uns ſey, und ehe wir eine Jdee davon haben koͤnnten. Auf gleiche Art muͤſſen wir die Glieder des Koͤrpers gebrauchet ha- ben, ehe wir eine Jdee von dieſen Bewegungen erlan- gen koͤnnen. Ehe wir uns einen Begriff machen von einer Selbſtbeſtimmung, von einem Entſchluſſe, ſind alle dieſe Handlungen ſchon vorher von uns verrichtet worden. Auch hier beſtaͤtiget die Erfahrung den allge- meinen Satz, daß jedwede Vorſtellung eine vorherge- gangene Empfindung erfodere, aus der ſie genommen worden iſt. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir koͤnnen nicht fliegen, wie die Voͤgel, wir haben alſo auch von dieſer Aktion ſelbſt keinen weitern Begriff, als nur den von ihren Wirkungen, die empfunden worden ſind, nebſt der unbeſtimmten Jdee von der Anſtrengung der Arme und der Fuͤße, und von einer rudernden Bewe- gung, dergleichen wir ſelbſt empfunden haben. Die Vorſtellung iſt bey uns eine ſelbſtgemachte Fiktion. Was das Schwimmen fuͤr eine Handlung ſey, davon hat ei- ner, der es nie ſelbſt verſucht, keine andere Vorſtellung, als ein Hottentotte von dem tiefſinnigen Nachdenken. Dieſer Satz alſo, „daß inſtinktartige Kraftaͤuſ- ſerungen vorhergehen, ehe wir Vorſtellungen von ihnen haben koͤnnen,‟ iſt von einer gleichen Zu- verlaͤßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorſtellungen vor- hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieſer letzte Satz iſt in dem Umfange wahr, in dem es wahr iſt, daß alle Vorſtellungen nichts anders ſind, als hinterbliebene Spuren von abſoluten Modifikationen, die vorher gefuͤh- let worden ſind. Daher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/688
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/688>, abgerufen am 24.11.2024.