Auf der andern Seite hingegen erweitert sie selbige. Denn da der gemeine Verstand sich nur an Einen Ge- sichtspunkt bey jedem Sinn gewöhnt hat, und für reelle Eindrücke nur solche gebraucht, die alsdenn entstehen, wenn die Organe in ihrer natürlichen, gesunden und ge- wöhnlichen Verfassung sind, und die übrigen Erforder- nisse gleichfalls so sind, wie gewöhnlicher Weise, so zei- get die Vernunft, daß dieser Gesichtspunkt wohl verän- dert werden möge, ohne daß die Realität der Erkenntnisse darunter leide. Nur muß dieser Punkt doch der nämli- che bleiben, bey allen Jmpressionen, die man verglei- chen und wornach man urtheilen will. Wir brauchten die Planeten niemals in solcher Nähe zu sehen, als die- jenige ist, die wir bey kleinen Körpern auf unserer Erde verlangen, um sie so zu sehen, wie sie sind; wären jene nur alle gleich weit entfernt, so ließe sich ihre wahre Größe doch aus ihrer scheinbaren beurtheilen. Es ist nur diese Vorsichtigkeit nöthig, daß keine Jmpression unter ge- wissen Umständen mit einer andern unter ungleichen Um- ständen verglichen werde. Wir bedienen uns zwar auch solcher oft genug, aber nicht unmittelbar wie entsprechen- de Zeichen, sondern nur erst nach einer vorhergegange- nen Reduktion.
Wollte man unserer Erkenntniß von wirklichen Din- gen alles Objektivische, alles Unveränderliche und Noth- wendige absprechen, so müßte man annehmen, es sey uns nicht möglich, in irgend einem Fall es mit Gewiß- heit auszumachen, daß die Jmpressionen von allen übri- gen Umständen so unabhängig sind, als dazu erfodert wird. Denn es soll bey ihnen so, wie sie als Wirkun- gen vorhanden sind, alles übrige gleich und einerley seyn, nur die einwirkende Dinge ausgenommen, damit von diesen allein ihre Verhältnisse und Beziehungen nur ab- hangen. Sonsten kann die Analogie nicht Statt fin- den, in der die Wahrheit bestehet. Kann man nun
in
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Auf der andern Seite hingegen erweitert ſie ſelbige. Denn da der gemeine Verſtand ſich nur an Einen Ge- ſichtspunkt bey jedem Sinn gewoͤhnt hat, und fuͤr reelle Eindruͤcke nur ſolche gebraucht, die alsdenn entſtehen, wenn die Organe in ihrer natuͤrlichen, geſunden und ge- woͤhnlichen Verfaſſung ſind, und die uͤbrigen Erforder- niſſe gleichfalls ſo ſind, wie gewoͤhnlicher Weiſe, ſo zei- get die Vernunft, daß dieſer Geſichtspunkt wohl veraͤn- dert werden moͤge, ohne daß die Realitaͤt der Erkenntniſſe darunter leide. Nur muß dieſer Punkt doch der naͤmli- che bleiben, bey allen Jmpreſſionen, die man verglei- chen und wornach man urtheilen will. Wir brauchten die Planeten niemals in ſolcher Naͤhe zu ſehen, als die- jenige iſt, die wir bey kleinen Koͤrpern auf unſerer Erde verlangen, um ſie ſo zu ſehen, wie ſie ſind; waͤren jene nur alle gleich weit entfernt, ſo ließe ſich ihre wahre Groͤße doch aus ihrer ſcheinbaren beurtheilen. Es iſt nur dieſe Vorſichtigkeit noͤthig, daß keine Jmpreſſion unter ge- wiſſen Umſtaͤnden mit einer andern unter ungleichen Um- ſtaͤnden verglichen werde. Wir bedienen uns zwar auch ſolcher oft genug, aber nicht unmittelbar wie entſprechen- de Zeichen, ſondern nur erſt nach einer vorhergegange- nen Reduktion.
Wollte man unſerer Erkenntniß von wirklichen Din- gen alles Objektiviſche, alles Unveraͤnderliche und Noth- wendige abſprechen, ſo muͤßte man annehmen, es ſey uns nicht moͤglich, in irgend einem Fall es mit Gewiß- heit auszumachen, daß die Jmpreſſionen von allen uͤbri- gen Umſtaͤnden ſo unabhaͤngig ſind, als dazu erfodert wird. Denn es ſoll bey ihnen ſo, wie ſie als Wirkun- gen vorhanden ſind, alles uͤbrige gleich und einerley ſeyn, nur die einwirkende Dinge ausgenommen, damit von dieſen allein ihre Verhaͤltniſſe und Beziehungen nur ab- hangen. Sonſten kann die Analogie nicht Statt fin- den, in der die Wahrheit beſtehet. Kann man nun
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Auf der andern Seite hingegen erweitert ſie ſelbige.
Denn da der gemeine Verſtand ſich nur an Einen Ge-
ſichtspunkt bey jedem Sinn gewoͤhnt hat, und fuͤr reelle
Eindruͤcke nur ſolche gebraucht, die alsdenn entſtehen,
wenn die Organe in ihrer natuͤrlichen, geſunden und ge-
woͤhnlichen Verfaſſung ſind, und die uͤbrigen Erforder-
niſſe gleichfalls ſo ſind, wie gewoͤhnlicher Weiſe, ſo zei-
get die Vernunft, daß dieſer Geſichtspunkt wohl veraͤn-
dert werden moͤge, ohne daß die Realitaͤt der Erkenntniſſe
darunter leide. Nur muß dieſer Punkt doch der naͤmli-
che bleiben, bey allen Jmpreſſionen, die man verglei-
chen und wornach man urtheilen will. Wir brauchten
die Planeten niemals in ſolcher Naͤhe zu ſehen, als die-
jenige iſt, die wir bey kleinen Koͤrpern auf unſerer Erde
verlangen, um ſie ſo zu ſehen, wie ſie ſind; waͤren jene
nur alle gleich weit entfernt, ſo ließe ſich ihre wahre Groͤße
doch aus ihrer ſcheinbaren beurtheilen. Es iſt nur dieſe
Vorſichtigkeit noͤthig, daß keine Jmpreſſion unter ge-
wiſſen Umſtaͤnden mit einer andern unter ungleichen Um-
ſtaͤnden verglichen werde. Wir bedienen uns zwar auch
ſolcher oft genug, aber nicht unmittelbar wie entſprechen-
de Zeichen, ſondern nur erſt nach einer vorhergegange-
nen Reduktion.
Wollte man unſerer Erkenntniß von wirklichen Din-
gen alles Objektiviſche, alles Unveraͤnderliche und Noth-
wendige abſprechen, ſo muͤßte man annehmen, es ſey
uns nicht moͤglich, in irgend einem Fall es mit Gewiß-
heit auszumachen, daß die Jmpreſſionen von allen uͤbri-
gen Umſtaͤnden ſo unabhaͤngig ſind, als dazu erfodert
wird. Denn es ſoll bey ihnen ſo, wie ſie als Wirkun-
gen vorhanden ſind, alles uͤbrige gleich und einerley ſeyn,
nur die einwirkende Dinge ausgenommen, damit von
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 562. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/622>, abgerufen am 24.11.2024.
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