Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.über Empfindungen u. Empfindnisse. des Dichters an seinen Erdichtungen; des Künstlers,des Landmanns und des Handwerkers an ihren Hand- arbeiten; wie mannichfaltig und wie verschieden sind nicht diese Vergnügungen! Alle diese Arten von Lust und Unlust sollten nichts seyn, als die Lust oder Unlust, die mit den Eindrücken auf das Gefühl und auf den Ge- schmack verbunden, und von diesen auf jene hinüberge- tragen, oder durch eine Jdeenverbindung mit jenen verbunden sind. Diese letztere Hypothese hat überdieß noch eine andre Folge, die solche nicht empfiehlet. Nach ihr muß die ganze Masse des menschlichen Wohls ohne Zuwachs immer dieselbige bleiben, so lange die Summe seiner sinnlichen Ergötzungen und ihre Spuren in der Phantasie dieselbige Größe behalten. Jene wird nicht größer durch die Entwickelung der Seelenvermögen, son- dern nur mehr ausgebreitet und an mehreren Stellen hin vertheilet. Der sinnlichste Mensch ziehet die Lust und Unlust unmittelbar aus der Wurzel; der ausgebildete, der geistige genießet sie nicht anders als so, wie sie in den Aesten und Zweigen vertheilet und schon etwas geschwä- chet vorhanden ist. Die Wissenschaften und Künste, der Umgang mit den Musen, die Entfaltung der Phan- tasie und des Herzens, gewähren keine neue Lust für uns, die der sinnliche Wollüstling, der die Kunst angenehm zu empfinden verstehet, sich nicht in einer viel reichlichern Masse verschaffen könnte, wofern nicht jene erworbene und entwickelte Fähigkeiten zugleich die Empfänglichkeit der sinnlichen Vergnügungen erhöhen. Doch diese Fol- gen entscheiden nichts für die Wahrheit oder Falschheit der Grundsätze, wovon sie abhangen. Sie zeigen nur dieser ihren praktischen Einfluß, und dieß ist die Absicht, warum ich ihn erwähne. Soll es, da beide gedachte Hypothesen, davon Eine nun I. Band. Q
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. des Dichters an ſeinen Erdichtungen; des Kuͤnſtlers,des Landmanns und des Handwerkers an ihren Hand- arbeiten; wie mannichfaltig und wie verſchieden ſind nicht dieſe Vergnuͤgungen! Alle dieſe Arten von Luſt und Unluſt ſollten nichts ſeyn, als die Luſt oder Unluſt, die mit den Eindruͤcken auf das Gefuͤhl und auf den Ge- ſchmack verbunden, und von dieſen auf jene hinuͤberge- tragen, oder durch eine Jdeenverbindung mit jenen verbunden ſind. Dieſe letztere Hypotheſe hat uͤberdieß noch eine andre Folge, die ſolche nicht empfiehlet. Nach ihr muß die ganze Maſſe des menſchlichen Wohls ohne Zuwachs immer dieſelbige bleiben, ſo lange die Summe ſeiner ſinnlichen Ergoͤtzungen und ihre Spuren in der Phantaſie dieſelbige Groͤße behalten. Jene wird nicht groͤßer durch die Entwickelung der Seelenvermoͤgen, ſon- dern nur mehr ausgebreitet und an mehreren Stellen hin vertheilet. Der ſinnlichſte Menſch ziehet die Luſt und Unluſt unmittelbar aus der Wurzel; der ausgebildete, der geiſtige genießet ſie nicht anders als ſo, wie ſie in den Aeſten und Zweigen vertheilet und ſchon etwas geſchwaͤ- chet vorhanden iſt. Die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, der Umgang mit den Muſen, die Entfaltung der Phan- taſie und des Herzens, gewaͤhren keine neue Luſt fuͤr uns, die der ſinnliche Wolluͤſtling, der die Kunſt angenehm zu empfinden verſtehet, ſich nicht in einer viel reichlichern Maſſe verſchaffen koͤnnte, wofern nicht jene erworbene und entwickelte Faͤhigkeiten zugleich die Empfaͤnglichkeit der ſinnlichen Vergnuͤgungen erhoͤhen. Doch dieſe Fol- gen entſcheiden nichts fuͤr die Wahrheit oder Falſchheit der Grundſaͤtze, wovon ſie abhangen. Sie zeigen nur dieſer ihren praktiſchen Einfluß, und dieß iſt die Abſicht, warum ich ihn erwaͤhne. Soll es, da beide gedachte Hypotheſen, davon Eine nun I. Band. Q
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nicht dieſe Vergnuͤgungen! Alle dieſe Arten von Luſt
und Unluſt ſollten nichts ſeyn, als die Luſt oder Unluſt,
die mit den Eindruͤcken auf das Gefuͤhl und auf den Ge-
ſchmack verbunden, und von dieſen auf jene hinuͤberge-
tragen, oder durch eine Jdeenverbindung mit jenen
verbunden ſind. Dieſe letztere Hypotheſe hat uͤberdieß
noch eine andre Folge, die ſolche nicht empfiehlet. Nach
ihr muß die ganze Maſſe des menſchlichen Wohls ohne
Zuwachs immer dieſelbige bleiben, ſo lange die Summe
ſeiner ſinnlichen Ergoͤtzungen und ihre Spuren in der
Phantaſie dieſelbige Groͤße behalten. Jene wird nicht
groͤßer durch die Entwickelung der Seelenvermoͤgen, ſon-
dern nur mehr ausgebreitet und an mehreren Stellen hin
vertheilet. Der ſinnlichſte Menſch ziehet die Luſt und
Unluſt unmittelbar aus der Wurzel; der ausgebildete,
der geiſtige genießet ſie nicht anders als ſo, wie ſie in den
Aeſten und Zweigen vertheilet und ſchon etwas geſchwaͤ-
chet vorhanden iſt. Die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte,
der Umgang mit den Muſen, die Entfaltung der Phan-
taſie und des Herzens, gewaͤhren keine neue Luſt fuͤr uns, die
der ſinnliche Wolluͤſtling, der die Kunſt angenehm zu
empfinden verſtehet, ſich nicht in einer viel reichlichern
Maſſe verſchaffen koͤnnte, wofern nicht jene erworbene
und entwickelte Faͤhigkeiten zugleich die Empfaͤnglichkeit
der ſinnlichen Vergnuͤgungen erhoͤhen. Doch dieſe Fol-
gen entſcheiden nichts fuͤr die Wahrheit oder Falſchheit
der Grundſaͤtze, wovon ſie abhangen. Sie zeigen nur
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Soll es, da beide gedachte Hypotheſen, davon Eine
urſpruͤngliche Empfindniſſe aus dem innern Sinn
vorausſetzet, die andere ſolche laͤugnet, moͤglich ſind,
nun
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