Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Versuch. Ueber das Gefühl,
nun noch entschieden werden, welche von ihnen die wahre
sey, so müssen Beobachtungen oder Schlüsse die Gründe
hergeben. Und ich meyne, daß sie entscheiden, und daß
es ein Erfahrungssatz sey, daß einige innere Empfin-
dungen für sich unmittelbar afficirend sind, und daß wir
dieß eben so zuverläßig wissen und wissen können, als
wir es wissen, daß es ursprünglich angenehme und un-
angenehme körperliche Gefühle giebt. Daß es in so
manchen besondern Fällen zweifelhaft sey, zu welcher
Gattung ein Empfindniß gehöre, wird man nicht in
Abrede seyn. Aber deswegen wird man in andern dar-
über zur Gewißheit kommen, wenn man sich auf einzelne
Beobachtungen einläßt, und alsdenn zwischen einer ur-
sprünglich angenehmen Empfindung aus dem äußern
Sinn, und einer andern aus dem innern Sinn die Pa-
rallele ziehet. Sollte z. B. das Anschauen herausge-
forschter Wahrheit in dem Kopf desjenigen, der einen
Drang zum Nachsinnen in sich fühlet, nicht für sich, und
nicht aus sich selbst die Lust bewirken, die er empfindet
und die sein Jnnerstes erschüttert? Er empfindet sie
doch. Diese Empfindung soll nicht aus einem gegen-
wärtigen Eindruck aufs Gemüth, den seine Verstandes-
thätigkeit hervorbringet, sondern aus einer vorhergegan-
genen, jetzt wieder heraufgeführten und in der Einbil-
dung daran verknüpften, also aus einer ideellen Empfind-
niß entstehen, die eigentlich ein Phantasma ist? Jch
kann weder der Uebertragung noch dem Associations-
system hierinnen meinen Beyfall geben. Aber ich ge-
stehe, ich weis auch die Vertheidiger dieser Meinungen
nicht anders zu widerlegen, als auf die Art und durch die
Gründe, auf und mit welchen es hier geschehen ist.
Nemlich, die Möglichkeit ist auf beiden Seiten gleich;
die Analogie können beide für sich anführen. Nur die
unmittelbare Beobachtung ist der einen günstiger als der
andern. Die Eine muß von dem, was man beobachtet,

manches

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
nun noch entſchieden werden, welche von ihnen die wahre
ſey, ſo muͤſſen Beobachtungen oder Schluͤſſe die Gruͤnde
hergeben. Und ich meyne, daß ſie entſcheiden, und daß
es ein Erfahrungsſatz ſey, daß einige innere Empfin-
dungen fuͤr ſich unmittelbar afficirend ſind, und daß wir
dieß eben ſo zuverlaͤßig wiſſen und wiſſen koͤnnen, als
wir es wiſſen, daß es urſpruͤnglich angenehme und un-
angenehme koͤrperliche Gefuͤhle giebt. Daß es in ſo
manchen beſondern Faͤllen zweifelhaft ſey, zu welcher
Gattung ein Empfindniß gehoͤre, wird man nicht in
Abrede ſeyn. Aber deswegen wird man in andern dar-
uͤber zur Gewißheit kommen, wenn man ſich auf einzelne
Beobachtungen einlaͤßt, und alsdenn zwiſchen einer ur-
ſpruͤnglich angenehmen Empfindung aus dem aͤußern
Sinn, und einer andern aus dem innern Sinn die Pa-
rallele ziehet. Sollte z. B. das Anſchauen herausge-
forſchter Wahrheit in dem Kopf desjenigen, der einen
Drang zum Nachſinnen in ſich fuͤhlet, nicht fuͤr ſich, und
nicht aus ſich ſelbſt die Luſt bewirken, die er empfindet
und die ſein Jnnerſtes erſchuͤttert? Er empfindet ſie
doch. Dieſe Empfindung ſoll nicht aus einem gegen-
waͤrtigen Eindruck aufs Gemuͤth, den ſeine Verſtandes-
thaͤtigkeit hervorbringet, ſondern aus einer vorhergegan-
genen, jetzt wieder heraufgefuͤhrten und in der Einbil-
dung daran verknuͤpften, alſo aus einer ideellen Empfind-
niß entſtehen, die eigentlich ein Phantasma iſt? Jch
kann weder der Uebertragung noch dem Aſſociations-
ſyſtem hierinnen meinen Beyfall geben. Aber ich ge-
ſtehe, ich weis auch die Vertheidiger dieſer Meinungen
nicht anders zu widerlegen, als auf die Art und durch die
Gruͤnde, auf und mit welchen es hier geſchehen iſt.
Nemlich, die Moͤglichkeit iſt auf beiden Seiten gleich;
die Analogie koͤnnen beide fuͤr ſich anfuͤhren. Nur die
unmittelbare Beobachtung iſt der einen guͤnſtiger als der
andern. Die Eine muß von dem, was man beobachtet,

manches
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0302" n="242"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Gefu&#x0364;hl,</hi></fw><lb/>
nun noch ent&#x017F;chieden werden, welche von ihnen die wahre<lb/>
&#x017F;ey, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Beobachtungen oder Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e die Gru&#x0364;nde<lb/>
hergeben. Und ich meyne, daß &#x017F;ie ent&#x017F;cheiden, und daß<lb/>
es ein Erfahrungs&#x017F;atz &#x017F;ey, daß einige innere Empfin-<lb/>
dungen fu&#x0364;r &#x017F;ich unmittelbar afficirend &#x017F;ind, und daß wir<lb/>
dieß eben &#x017F;o zuverla&#x0364;ßig wi&#x017F;&#x017F;en und wi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen, als<lb/>
wir es wi&#x017F;&#x017F;en, daß es ur&#x017F;pru&#x0364;nglich angenehme und un-<lb/>
angenehme ko&#x0364;rperliche Gefu&#x0364;hle giebt. Daß es in &#x017F;o<lb/>
manchen be&#x017F;ondern Fa&#x0364;llen zweifelhaft &#x017F;ey, zu welcher<lb/>
Gattung ein Empfindniß geho&#x0364;re, wird man nicht in<lb/>
Abrede &#x017F;eyn. Aber deswegen wird man in andern dar-<lb/>
u&#x0364;ber zur Gewißheit kommen, wenn man &#x017F;ich auf einzelne<lb/>
Beobachtungen einla&#x0364;ßt, und alsdenn zwi&#x017F;chen einer ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;nglich angenehmen Empfindung aus dem a&#x0364;ußern<lb/>
Sinn, und einer andern aus dem innern Sinn die Pa-<lb/>
rallele ziehet. Sollte z. B. das An&#x017F;chauen herausge-<lb/>
for&#x017F;chter Wahrheit in dem Kopf desjenigen, der einen<lb/>
Drang zum Nach&#x017F;innen in &#x017F;ich fu&#x0364;hlet, nicht fu&#x0364;r &#x017F;ich, und<lb/>
nicht aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t die Lu&#x017F;t bewirken, die er empfindet<lb/>
und die &#x017F;ein Jnner&#x017F;tes er&#x017F;chu&#x0364;ttert? Er <hi rendition="#fr">empfindet</hi> &#x017F;ie<lb/>
doch. Die&#x017F;e Empfindung &#x017F;oll nicht aus einem gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtigen Eindruck aufs Gemu&#x0364;th, den &#x017F;eine Ver&#x017F;tandes-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit hervorbringet, &#x017F;ondern aus einer vorhergegan-<lb/>
genen, jetzt wieder heraufgefu&#x0364;hrten und in der Einbil-<lb/>
dung daran verknu&#x0364;pften, al&#x017F;o aus einer ideellen Empfind-<lb/>
niß ent&#x017F;tehen, die eigentlich ein Phantasma i&#x017F;t? Jch<lb/>
kann weder der Uebertragung noch dem A&#x017F;&#x017F;ociations-<lb/>
&#x017F;y&#x017F;tem hierinnen meinen Beyfall geben. Aber ich ge-<lb/>
&#x017F;tehe, ich weis auch die Vertheidiger die&#x017F;er Meinungen<lb/>
nicht anders zu widerlegen, als auf die Art und durch die<lb/>
Gru&#x0364;nde, auf und mit welchen es hier ge&#x017F;chehen i&#x017F;t.<lb/>
Nemlich, die Mo&#x0364;glichkeit i&#x017F;t auf beiden Seiten gleich;<lb/>
die Analogie ko&#x0364;nnen beide fu&#x0364;r &#x017F;ich anfu&#x0364;hren. Nur die<lb/>
unmittelbare Beobachtung i&#x017F;t der einen gu&#x0364;n&#x017F;tiger als der<lb/>
andern. Die Eine muß von dem, was man beobachtet,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">manches</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0302] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, nun noch entſchieden werden, welche von ihnen die wahre ſey, ſo muͤſſen Beobachtungen oder Schluͤſſe die Gruͤnde hergeben. Und ich meyne, daß ſie entſcheiden, und daß es ein Erfahrungsſatz ſey, daß einige innere Empfin- dungen fuͤr ſich unmittelbar afficirend ſind, und daß wir dieß eben ſo zuverlaͤßig wiſſen und wiſſen koͤnnen, als wir es wiſſen, daß es urſpruͤnglich angenehme und un- angenehme koͤrperliche Gefuͤhle giebt. Daß es in ſo manchen beſondern Faͤllen zweifelhaft ſey, zu welcher Gattung ein Empfindniß gehoͤre, wird man nicht in Abrede ſeyn. Aber deswegen wird man in andern dar- uͤber zur Gewißheit kommen, wenn man ſich auf einzelne Beobachtungen einlaͤßt, und alsdenn zwiſchen einer ur- ſpruͤnglich angenehmen Empfindung aus dem aͤußern Sinn, und einer andern aus dem innern Sinn die Pa- rallele ziehet. Sollte z. B. das Anſchauen herausge- forſchter Wahrheit in dem Kopf desjenigen, der einen Drang zum Nachſinnen in ſich fuͤhlet, nicht fuͤr ſich, und nicht aus ſich ſelbſt die Luſt bewirken, die er empfindet und die ſein Jnnerſtes erſchuͤttert? Er empfindet ſie doch. Dieſe Empfindung ſoll nicht aus einem gegen- waͤrtigen Eindruck aufs Gemuͤth, den ſeine Verſtandes- thaͤtigkeit hervorbringet, ſondern aus einer vorhergegan- genen, jetzt wieder heraufgefuͤhrten und in der Einbil- dung daran verknuͤpften, alſo aus einer ideellen Empfind- niß entſtehen, die eigentlich ein Phantasma iſt? Jch kann weder der Uebertragung noch dem Aſſociations- ſyſtem hierinnen meinen Beyfall geben. Aber ich ge- ſtehe, ich weis auch die Vertheidiger dieſer Meinungen nicht anders zu widerlegen, als auf die Art und durch die Gruͤnde, auf und mit welchen es hier geſchehen iſt. Nemlich, die Moͤglichkeit iſt auf beiden Seiten gleich; die Analogie koͤnnen beide fuͤr ſich anfuͤhren. Nur die unmittelbare Beobachtung iſt der einen guͤnſtiger als der andern. Die Eine muß von dem, was man beobachtet, manches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/302
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/302>, abgerufen am 24.11.2024.