zeiget. Die Phantasie ist eine große Zauberinn; sie verwandelt dürre Sandwüsten in Paradiese, und elende Hütten in Palläste; aber mit großer Einschränkung. Vermag sie deswegen alles? sollte nicht starkes Gefühl und Beobachtungsgeist, in vielen Fällen wenigstens, es zu unterscheiden wissen, ob die Farbe einer gewissen Em- pfindung nur ein Wiederschein von einer andern Em- pfindung sey, den die Phantasie auf jene zurück wirft; oder ob sie der Empfindung eigenthümlich zugehöre?
Da will ich einen jeden Beobachter selbst durch sein Gefühl entscheiden lassen. Nur betrachte man vorher die beiden Arten von Affektionen, jede besonders, die ursprünglichen und die abgeleiteten, nebst den Man- nigfaltigkeiten des Geschmacks, und dessen Abwechselun- gen; und was das Wesentliche ist, so nehme man Rück- sicht auf das, was von der afficirenden Kraft durch an- dere Beobachtungen außer Zweifel gesetzet worden ist. Die Phantasie und Dichtkraft mögen uns auch in unsern äußern simpeln Empfindungen mitspielen. Allein so wenig sie das Unterscheidungszeichen wahrer Empfin- dungen uns ganz entreißen können, wenn sie gleich in un- zähligen Fällen es zweifelhaft machen, ob Empfindung oder nur Vorbildung da ist, so wenig werden sie uns auch das Kennzeichen wegnehmen, an dem wir es wis- sen können, ob das Rührende einer Empfindung selbst für sich zukomme, oder ob es aus einer andern Em- pfindung in sie hineingetragen worden sey, oder jetzo hin- eingetragen werde?
Es ist wahr, ein lebhafteres und stärkeres Vergnü- gen unterdrückt einen mattern und schwächern Verdruß; und dieser kann jenes würzen und schärfen. Alsdenn wird der Verdruß gemeiniglich für sich selbst als Verdruß bemerket; aber auch öfters unterdrückt ihn die entgegen- gesetzte Bewegung gänzlich, und macht ihn unbemerk- bar. Am leichtesten nehmen die an sich gleichgültigen
Eindrücke
P 4
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
zeiget. Die Phantaſie iſt eine große Zauberinn; ſie verwandelt duͤrre Sandwuͤſten in Paradieſe, und elende Huͤtten in Pallaͤſte; aber mit großer Einſchraͤnkung. Vermag ſie deswegen alles? ſollte nicht ſtarkes Gefuͤhl und Beobachtungsgeiſt, in vielen Faͤllen wenigſtens, es zu unterſcheiden wiſſen, ob die Farbe einer gewiſſen Em- pfindung nur ein Wiederſchein von einer andern Em- pfindung ſey, den die Phantaſie auf jene zuruͤck wirft; oder ob ſie der Empfindung eigenthuͤmlich zugehoͤre?
Da will ich einen jeden Beobachter ſelbſt durch ſein Gefuͤhl entſcheiden laſſen. Nur betrachte man vorher die beiden Arten von Affektionen, jede beſonders, die urſpruͤnglichen und die abgeleiteten, nebſt den Man- nigfaltigkeiten des Geſchmacks, und deſſen Abwechſelun- gen; und was das Weſentliche iſt, ſo nehme man Ruͤck- ſicht auf das, was von der afficirenden Kraft durch an- dere Beobachtungen außer Zweifel geſetzet worden iſt. Die Phantaſie und Dichtkraft moͤgen uns auch in unſern aͤußern ſimpeln Empfindungen mitſpielen. Allein ſo wenig ſie das Unterſcheidungszeichen wahrer Empfin- dungen uns ganz entreißen koͤnnen, wenn ſie gleich in un- zaͤhligen Faͤllen es zweifelhaft machen, ob Empfindung oder nur Vorbildung da iſt, ſo wenig werden ſie uns auch das Kennzeichen wegnehmen, an dem wir es wiſ- ſen koͤnnen, ob das Ruͤhrende einer Empfindung ſelbſt fuͤr ſich zukomme, oder ob es aus einer andern Em- pfindung in ſie hineingetragen worden ſey, oder jetzo hin- eingetragen werde?
Es iſt wahr, ein lebhafteres und ſtaͤrkeres Vergnuͤ- gen unterdruͤckt einen mattern und ſchwaͤchern Verdruß; und dieſer kann jenes wuͤrzen und ſchaͤrfen. Alsdenn wird der Verdruß gemeiniglich fuͤr ſich ſelbſt als Verdruß bemerket; aber auch oͤfters unterdruͤckt ihn die entgegen- geſetzte Bewegung gaͤnzlich, und macht ihn unbemerk- bar. Am leichteſten nehmen die an ſich gleichguͤltigen
Eindruͤcke
P 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0291"n="231"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.</hi></fw><lb/>
zeiget. Die Phantaſie iſt eine große Zauberinn; ſie<lb/>
verwandelt duͤrre Sandwuͤſten in Paradieſe, und elende<lb/>
Huͤtten in Pallaͤſte; aber mit großer Einſchraͤnkung.<lb/>
Vermag ſie deswegen alles? ſollte nicht ſtarkes Gefuͤhl<lb/>
und Beobachtungsgeiſt, in vielen Faͤllen wenigſtens, es<lb/>
zu unterſcheiden wiſſen, ob die Farbe einer gewiſſen Em-<lb/>
pfindung nur ein Wiederſchein von einer andern Em-<lb/>
pfindung ſey, den die Phantaſie auf jene zuruͤck wirft;<lb/>
oder ob ſie der Empfindung eigenthuͤmlich zugehoͤre?</p><lb/><p>Da will ich einen jeden Beobachter ſelbſt durch ſein<lb/>
Gefuͤhl entſcheiden laſſen. Nur betrachte man vorher<lb/>
die beiden Arten von Affektionen, jede beſonders, die<lb/><hirendition="#fr">urſpruͤnglichen</hi> und die <hirendition="#fr">abgeleiteten,</hi> nebſt den Man-<lb/>
nigfaltigkeiten des Geſchmacks, und deſſen Abwechſelun-<lb/>
gen; und was das Weſentliche iſt, ſo nehme man Ruͤck-<lb/>ſicht auf das, was von der afficirenden Kraft durch an-<lb/>
dere Beobachtungen außer Zweifel geſetzet worden iſt.<lb/>
Die Phantaſie und Dichtkraft moͤgen uns auch in unſern<lb/>
aͤußern ſimpeln Empfindungen mitſpielen. Allein ſo<lb/>
wenig ſie das Unterſcheidungszeichen wahrer Empfin-<lb/>
dungen uns ganz entreißen koͤnnen, wenn ſie gleich in un-<lb/>
zaͤhligen Faͤllen es zweifelhaft machen, ob Empfindung<lb/>
oder nur Vorbildung da iſt, ſo wenig werden ſie uns<lb/>
auch das Kennzeichen wegnehmen, an dem wir es wiſ-<lb/>ſen koͤnnen, ob das Ruͤhrende einer Empfindung ſelbſt<lb/>
fuͤr ſich zukomme, oder ob es aus einer andern Em-<lb/>
pfindung in ſie hineingetragen worden ſey, oder jetzo hin-<lb/>
eingetragen werde?</p><lb/><p>Es iſt wahr, ein lebhafteres und ſtaͤrkeres Vergnuͤ-<lb/>
gen unterdruͤckt einen mattern und ſchwaͤchern Verdruß;<lb/>
und dieſer kann jenes wuͤrzen und ſchaͤrfen. Alsdenn<lb/>
wird der Verdruß gemeiniglich fuͤr ſich ſelbſt als Verdruß<lb/>
bemerket; aber auch oͤfters unterdruͤckt ihn die entgegen-<lb/>
geſetzte Bewegung gaͤnzlich, und macht ihn unbemerk-<lb/>
bar. Am leichteſten nehmen die an ſich gleichguͤltigen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Eindruͤcke</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[231/0291]
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
zeiget. Die Phantaſie iſt eine große Zauberinn; ſie
verwandelt duͤrre Sandwuͤſten in Paradieſe, und elende
Huͤtten in Pallaͤſte; aber mit großer Einſchraͤnkung.
Vermag ſie deswegen alles? ſollte nicht ſtarkes Gefuͤhl
und Beobachtungsgeiſt, in vielen Faͤllen wenigſtens, es
zu unterſcheiden wiſſen, ob die Farbe einer gewiſſen Em-
pfindung nur ein Wiederſchein von einer andern Em-
pfindung ſey, den die Phantaſie auf jene zuruͤck wirft;
oder ob ſie der Empfindung eigenthuͤmlich zugehoͤre?
Da will ich einen jeden Beobachter ſelbſt durch ſein
Gefuͤhl entſcheiden laſſen. Nur betrachte man vorher
die beiden Arten von Affektionen, jede beſonders, die
urſpruͤnglichen und die abgeleiteten, nebſt den Man-
nigfaltigkeiten des Geſchmacks, und deſſen Abwechſelun-
gen; und was das Weſentliche iſt, ſo nehme man Ruͤck-
ſicht auf das, was von der afficirenden Kraft durch an-
dere Beobachtungen außer Zweifel geſetzet worden iſt.
Die Phantaſie und Dichtkraft moͤgen uns auch in unſern
aͤußern ſimpeln Empfindungen mitſpielen. Allein ſo
wenig ſie das Unterſcheidungszeichen wahrer Empfin-
dungen uns ganz entreißen koͤnnen, wenn ſie gleich in un-
zaͤhligen Faͤllen es zweifelhaft machen, ob Empfindung
oder nur Vorbildung da iſt, ſo wenig werden ſie uns
auch das Kennzeichen wegnehmen, an dem wir es wiſ-
ſen koͤnnen, ob das Ruͤhrende einer Empfindung ſelbſt
fuͤr ſich zukomme, oder ob es aus einer andern Em-
pfindung in ſie hineingetragen worden ſey, oder jetzo hin-
eingetragen werde?
Es iſt wahr, ein lebhafteres und ſtaͤrkeres Vergnuͤ-
gen unterdruͤckt einen mattern und ſchwaͤchern Verdruß;
und dieſer kann jenes wuͤrzen und ſchaͤrfen. Alsdenn
wird der Verdruß gemeiniglich fuͤr ſich ſelbſt als Verdruß
bemerket; aber auch oͤfters unterdruͤckt ihn die entgegen-
geſetzte Bewegung gaͤnzlich, und macht ihn unbemerk-
bar. Am leichteſten nehmen die an ſich gleichguͤltigen
Eindruͤcke
P 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/291>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.