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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Tra
ger Spannung hält, und das muß das Trauerspiehl
thun, dürfte nicht über drey Stunden währen, so
würde es uns gewiß ermüden; auch die Schauspieh-
ler könnten es schweerlich mit dem nöthigen Feuer
länger aushalten.

Aus diesen Schranken, die wir aus guten Grün-
den der Dauer des Schauspiehls sezen, läßt sich nun
die Größe der Handlung abnehmen. Wenn alles
natürlich und ungezwungen seyn soll, welches in al-
len Werken der Kunst eine Haupteigenschaft ist, so
kann die Handlung keine größere Ausdähnung in
der Zeit haben, als ohne Zwang in der Dauer des
Spiehls vorgestellt werden kann. Allein eine Hand-
lung von irgend einer Wichtigkeit, ist selten so kurz.
Man nimmt es deswegen auch nicht so sehr genau,
und sezt zum voraus, daß der Zuschauer, der mit
dem beschäftiget ist, was er vor sich sieht, den, was
außer der Scene geschieht, die Zeit eben nicht genau
vorrechne. Man findet sich eben nicht sehr beleidi-
get, daß eine Person, die etliche Minuten lang von
der Scene weggewesen, und nun wieder kommt, in-
zwischen etwas verrichtet habe, wozu eine drey oder
viermal längere Zeit, als ihre Abwesenheit ge-
dauert hat, erfodert wird. Daher kommt es, daß
ofte Handlungen vorgestellt werden, die natürlicher
Weise einen ganzen Tag wegnehmen müßten. Die
Alten sind aber in diesem Stük genauer gewesen,
als wir sind. Viele von ihren Trauerspiehlen sind
so, daß die ganze Handlung auch in der Natur
währender Zeit der Vorstellung hätte geschehen kön-
nen, wiewol sie doch auch nicht ohne alle Ueberschrei-
tung des Maaßes sind. Daß sich die Neuern hie-
rin mehr Freyheit erlaubt haben, mag meistentheils
daher kommen, daß sie sich nicht getrauen, ohne
viel Verwiklung und Mannigfaltigkeit der Zufälle
unterhaltend genug zu seyn. Dieses trauten sich
die Griechen zu, und konnten es auch. Es giebt
bey ihnen Trauerspiehle, die höchst einfach, und
doch höchst unterhaltend sind, wo die Handlung
durch viele Scenen sehr wenig fortrükt, der Zu-
schauer aber in beständig lebhafter Würksamkeit ist.

Daß Shakespear, der größte tragische Dichter un-
ter den Neuern, sowol diese, als manche andre Re-
gel übertreten, und doch gewußt hat, zu gefallen,
beweißt nichts dagegen. Wenn er zu dem großen
Verdienst, das er würklich hat, noch die Beobach-
tung der Regeln auch hinzugethan hätte, so wär er
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noch größer, und würde noch mehr gefallen. Ein
gothisches Gebäude kann einige sehr gute Parthien
haben, deswegen ist es doch ein Werk, daß im Gan-
zen ohne Geschmak ist. Viel Gemählde von Rem-
brand
sind in einigen Stüken bewundrungswürdig,
sonst aber jedem Menschen von Geschmak unaus-
stehlich. Jndessen wollen wir gar nicht behaupten,
daß nur das Trauerspiehl gut sey, das nach den Re-
geln der Alten behandelt wird: aber diese Behand-
lung halten wir überhaupt für die Beste. So viel
von der Beschaffenheit der Handlung.

Der zweyte wesentliche Punkt, worauf es beym
Trauerspiehl ankommt, betrift nach dem Aristoteles
die Sitten, und darunter scheint er alles zu begrei-
fen, was zum Charakter, der Denkungsart, und
den Quellen der Handlungen der Personen gehört.
Wenn der Philosoph, wie es scheint, die Fabel würk-
lich für das wichtigste Stük des Trauerspiehls ge-
halten hat, so können wir nicht seiner Meinung
seyn, weil es aus außer Zweifel scheint, daß die
Sitten ein wichtigerer Theil seyen. Eine der vor-
nehmsten und wichtigsten Fabeln, die jemals auf die
tragische Bühne gekommen, ist die vom Oedipus in
Theben.
Eine wütende Pest droht der ganzen Stadt
den Untergang; die Priester geben vor, sie werde
nicht eher nachlassen, bis der Mörder des vorigen
Königs entdekt, und bestraft sey. Oedipus, der
wegen seiner fürtreflichen Regierung angebetet wird,
sezt sich vor alles mögliche zu thun, um den Mörder
zu entdeken und zu strafen. Es ergiebt sich aus
der Untersuchung, daß er selbst, ohne es gewußt zu
haben, dieser Mörder ist, daß der ermordete König
sein Vater gewesen; daß die Königinn, die er ge-
heyrathet hatte, seine leibliche Mutter ist; daß sei-
nen Aeltern vorhergesagt worden, ihr Sohn würde
seinen Vater umbringen, und seine Mutter zur
Gemahlin nehmen; daß zur Vereitelung dieser Pro-
phezeyung der Vater gleich nach seiner Geburth ihn
in eine Wildnis den Thieren auszusezen befohlen
habe; daß alles dessen ungeachtet er am Leben geblie-
ben, und durch die seltsameste Fatalität alles würk-
lich begangen habe, was vorher gesagt worden.
Nach dieser Entdekung sticht er sich selbst die Augen
aus, verläßt den Thron und die Stadt und besänf-
tiget dadurch den Zorn der Götter. Dies ist die
Fabel. Wunderbar, höchst seltsam und sehr tra-
gisch. Man kann daraus sehen, daß der Mensch
seinem Schiksal nicht entgehen kann, daß auch dem

recht-

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Tra
ger Spannung haͤlt, und das muß das Trauerſpiehl
thun, duͤrfte nicht uͤber drey Stunden waͤhren, ſo
wuͤrde es uns gewiß ermuͤden; auch die Schauſpieh-
ler koͤnnten es ſchweerlich mit dem noͤthigen Feuer
laͤnger aushalten.

Aus dieſen Schranken, die wir aus guten Gruͤn-
den der Dauer des Schauſpiehls ſezen, laͤßt ſich nun
die Groͤße der Handlung abnehmen. Wenn alles
natuͤrlich und ungezwungen ſeyn ſoll, welches in al-
len Werken der Kunſt eine Haupteigenſchaft iſt, ſo
kann die Handlung keine groͤßere Ausdaͤhnung in
der Zeit haben, als ohne Zwang in der Dauer des
Spiehls vorgeſtellt werden kann. Allein eine Hand-
lung von irgend einer Wichtigkeit, iſt ſelten ſo kurz.
Man nimmt es deswegen auch nicht ſo ſehr genau,
und ſezt zum voraus, daß der Zuſchauer, der mit
dem beſchaͤftiget iſt, was er vor ſich ſieht, den, was
außer der Scene geſchieht, die Zeit eben nicht genau
vorrechne. Man findet ſich eben nicht ſehr beleidi-
get, daß eine Perſon, die etliche Minuten lang von
der Scene weggeweſen, und nun wieder kommt, in-
zwiſchen etwas verrichtet habe, wozu eine drey oder
viermal laͤngere Zeit, als ihre Abweſenheit ge-
dauert hat, erfodert wird. Daher kommt es, daß
ofte Handlungen vorgeſtellt werden, die natuͤrlicher
Weiſe einen ganzen Tag wegnehmen muͤßten. Die
Alten ſind aber in dieſem Stuͤk genauer geweſen,
als wir ſind. Viele von ihren Trauerſpiehlen ſind
ſo, daß die ganze Handlung auch in der Natur
waͤhrender Zeit der Vorſtellung haͤtte geſchehen koͤn-
nen, wiewol ſie doch auch nicht ohne alle Ueberſchrei-
tung des Maaßes ſind. Daß ſich die Neuern hie-
rin mehr Freyheit erlaubt haben, mag meiſtentheils
daher kommen, daß ſie ſich nicht getrauen, ohne
viel Verwiklung und Mannigfaltigkeit der Zufaͤlle
unterhaltend genug zu ſeyn. Dieſes trauten ſich
die Griechen zu, und konnten es auch. Es giebt
bey ihnen Trauerſpiehle, die hoͤchſt einfach, und
doch hoͤchſt unterhaltend ſind, wo die Handlung
durch viele Scenen ſehr wenig fortruͤkt, der Zu-
ſchauer aber in beſtaͤndig lebhafter Wuͤrkſamkeit iſt.

Daß Shakeſpear, der groͤßte tragiſche Dichter un-
ter den Neuern, ſowol dieſe, als manche andre Re-
gel uͤbertreten, und doch gewußt hat, zu gefallen,
beweißt nichts dagegen. Wenn er zu dem großen
Verdienſt, das er wuͤrklich hat, noch die Beobach-
tung der Regeln auch hinzugethan haͤtte, ſo waͤr er
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Tra
noch groͤßer, und wuͤrde noch mehr gefallen. Ein
gothiſches Gebaͤude kann einige ſehr gute Parthien
haben, deswegen iſt es doch ein Werk, daß im Gan-
zen ohne Geſchmak iſt. Viel Gemaͤhlde von Rem-
brand
ſind in einigen Stuͤken bewundrungswuͤrdig,
ſonſt aber jedem Menſchen von Geſchmak unaus-
ſtehlich. Jndeſſen wollen wir gar nicht behaupten,
daß nur das Trauerſpiehl gut ſey, das nach den Re-
geln der Alten behandelt wird: aber dieſe Behand-
lung halten wir uͤberhaupt fuͤr die Beſte. So viel
von der Beſchaffenheit der Handlung.

Der zweyte weſentliche Punkt, worauf es beym
Trauerſpiehl ankommt, betrift nach dem Ariſtoteles
die Sitten, und darunter ſcheint er alles zu begrei-
fen, was zum Charakter, der Denkungsart, und
den Quellen der Handlungen der Perſonen gehoͤrt.
Wenn der Philoſoph, wie es ſcheint, die Fabel wuͤrk-
lich fuͤr das wichtigſte Stuͤk des Trauerſpiehls ge-
halten hat, ſo koͤnnen wir nicht ſeiner Meinung
ſeyn, weil es aus außer Zweifel ſcheint, daß die
Sitten ein wichtigerer Theil ſeyen. Eine der vor-
nehmſten und wichtigſten Fabeln, die jemals auf die
tragiſche Buͤhne gekommen, iſt die vom Oedipus in
Theben.
Eine wuͤtende Peſt droht der ganzen Stadt
den Untergang; die Prieſter geben vor, ſie werde
nicht eher nachlaſſen, bis der Moͤrder des vorigen
Koͤnigs entdekt, und beſtraft ſey. Oedipus, der
wegen ſeiner fuͤrtreflichen Regierung angebetet wird,
ſezt ſich vor alles moͤgliche zu thun, um den Moͤrder
zu entdeken und zu ſtrafen. Es ergiebt ſich aus
der Unterſuchung, daß er ſelbſt, ohne es gewußt zu
haben, dieſer Moͤrder iſt, daß der ermordete Koͤnig
ſein Vater geweſen; daß die Koͤniginn, die er ge-
heyrathet hatte, ſeine leibliche Mutter iſt; daß ſei-
nen Aeltern vorhergeſagt worden, ihr Sohn wuͤrde
ſeinen Vater umbringen, und ſeine Mutter zur
Gemahlin nehmen; daß zur Vereitelung dieſer Pro-
phezeyung der Vater gleich nach ſeiner Geburth ihn
in eine Wildnis den Thieren auszuſezen befohlen
habe; daß alles deſſen ungeachtet er am Leben geblie-
ben, und durch die ſeltſameſte Fatalitaͤt alles wuͤrk-
lich begangen habe, was vorher geſagt worden.
Nach dieſer Entdekung ſticht er ſich ſelbſt die Augen
aus, verlaͤßt den Thron und die Stadt und beſaͤnf-
tiget dadurch den Zorn der Goͤtter. Dies iſt die
Fabel. Wunderbar, hoͤchſt ſeltſam und ſehr tra-
giſch. Man kann daraus ſehen, daß der Menſch
ſeinem Schikſal nicht entgehen kann, daß auch dem

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[1174[1156]/0603] Tra Tra ger Spannung haͤlt, und das muß das Trauerſpiehl thun, duͤrfte nicht uͤber drey Stunden waͤhren, ſo wuͤrde es uns gewiß ermuͤden; auch die Schauſpieh- ler koͤnnten es ſchweerlich mit dem noͤthigen Feuer laͤnger aushalten. Aus dieſen Schranken, die wir aus guten Gruͤn- den der Dauer des Schauſpiehls ſezen, laͤßt ſich nun die Groͤße der Handlung abnehmen. Wenn alles natuͤrlich und ungezwungen ſeyn ſoll, welches in al- len Werken der Kunſt eine Haupteigenſchaft iſt, ſo kann die Handlung keine groͤßere Ausdaͤhnung in der Zeit haben, als ohne Zwang in der Dauer des Spiehls vorgeſtellt werden kann. Allein eine Hand- lung von irgend einer Wichtigkeit, iſt ſelten ſo kurz. Man nimmt es deswegen auch nicht ſo ſehr genau, und ſezt zum voraus, daß der Zuſchauer, der mit dem beſchaͤftiget iſt, was er vor ſich ſieht, den, was außer der Scene geſchieht, die Zeit eben nicht genau vorrechne. Man findet ſich eben nicht ſehr beleidi- get, daß eine Perſon, die etliche Minuten lang von der Scene weggeweſen, und nun wieder kommt, in- zwiſchen etwas verrichtet habe, wozu eine drey oder viermal laͤngere Zeit, als ihre Abweſenheit ge- dauert hat, erfodert wird. Daher kommt es, daß ofte Handlungen vorgeſtellt werden, die natuͤrlicher Weiſe einen ganzen Tag wegnehmen muͤßten. Die Alten ſind aber in dieſem Stuͤk genauer geweſen, als wir ſind. Viele von ihren Trauerſpiehlen ſind ſo, daß die ganze Handlung auch in der Natur waͤhrender Zeit der Vorſtellung haͤtte geſchehen koͤn- nen, wiewol ſie doch auch nicht ohne alle Ueberſchrei- tung des Maaßes ſind. Daß ſich die Neuern hie- rin mehr Freyheit erlaubt haben, mag meiſtentheils daher kommen, daß ſie ſich nicht getrauen, ohne viel Verwiklung und Mannigfaltigkeit der Zufaͤlle unterhaltend genug zu ſeyn. Dieſes trauten ſich die Griechen zu, und konnten es auch. Es giebt bey ihnen Trauerſpiehle, die hoͤchſt einfach, und doch hoͤchſt unterhaltend ſind, wo die Handlung durch viele Scenen ſehr wenig fortruͤkt, der Zu- ſchauer aber in beſtaͤndig lebhafter Wuͤrkſamkeit iſt. Daß Shakeſpear, der groͤßte tragiſche Dichter un- ter den Neuern, ſowol dieſe, als manche andre Re- gel uͤbertreten, und doch gewußt hat, zu gefallen, beweißt nichts dagegen. Wenn er zu dem großen Verdienſt, das er wuͤrklich hat, noch die Beobach- tung der Regeln auch hinzugethan haͤtte, ſo waͤr er noch groͤßer, und wuͤrde noch mehr gefallen. Ein gothiſches Gebaͤude kann einige ſehr gute Parthien haben, deswegen iſt es doch ein Werk, daß im Gan- zen ohne Geſchmak iſt. Viel Gemaͤhlde von Rem- brand ſind in einigen Stuͤken bewundrungswuͤrdig, ſonſt aber jedem Menſchen von Geſchmak unaus- ſtehlich. Jndeſſen wollen wir gar nicht behaupten, daß nur das Trauerſpiehl gut ſey, das nach den Re- geln der Alten behandelt wird: aber dieſe Behand- lung halten wir uͤberhaupt fuͤr die Beſte. So viel von der Beſchaffenheit der Handlung. Der zweyte weſentliche Punkt, worauf es beym Trauerſpiehl ankommt, betrift nach dem Ariſtoteles die Sitten, und darunter ſcheint er alles zu begrei- fen, was zum Charakter, der Denkungsart, und den Quellen der Handlungen der Perſonen gehoͤrt. Wenn der Philoſoph, wie es ſcheint, die Fabel wuͤrk- lich fuͤr das wichtigſte Stuͤk des Trauerſpiehls ge- halten hat, ſo koͤnnen wir nicht ſeiner Meinung ſeyn, weil es aus außer Zweifel ſcheint, daß die Sitten ein wichtigerer Theil ſeyen. Eine der vor- nehmſten und wichtigſten Fabeln, die jemals auf die tragiſche Buͤhne gekommen, iſt die vom Oedipus in Theben. Eine wuͤtende Peſt droht der ganzen Stadt den Untergang; die Prieſter geben vor, ſie werde nicht eher nachlaſſen, bis der Moͤrder des vorigen Koͤnigs entdekt, und beſtraft ſey. Oedipus, der wegen ſeiner fuͤrtreflichen Regierung angebetet wird, ſezt ſich vor alles moͤgliche zu thun, um den Moͤrder zu entdeken und zu ſtrafen. Es ergiebt ſich aus der Unterſuchung, daß er ſelbſt, ohne es gewußt zu haben, dieſer Moͤrder iſt, daß der ermordete Koͤnig ſein Vater geweſen; daß die Koͤniginn, die er ge- heyrathet hatte, ſeine leibliche Mutter iſt; daß ſei- nen Aeltern vorhergeſagt worden, ihr Sohn wuͤrde ſeinen Vater umbringen, und ſeine Mutter zur Gemahlin nehmen; daß zur Vereitelung dieſer Pro- phezeyung der Vater gleich nach ſeiner Geburth ihn in eine Wildnis den Thieren auszuſezen befohlen habe; daß alles deſſen ungeachtet er am Leben geblie- ben, und durch die ſeltſameſte Fatalitaͤt alles wuͤrk- lich begangen habe, was vorher geſagt worden. Nach dieſer Entdekung ſticht er ſich ſelbſt die Augen aus, verlaͤßt den Thron und die Stadt und beſaͤnf- tiget dadurch den Zorn der Goͤtter. Dies iſt die Fabel. Wunderbar, hoͤchſt ſeltſam und ſehr tra- giſch. Man kann daraus ſehen, daß der Menſch ſeinem Schikſal nicht entgehen kann, daß auch dem recht-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1174[1156]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/603>, abgerufen am 21.05.2024.