rechtschaffensten Menschen schrekliche Unglüksfälle betreffen können. Aber alles dieses scheint doch we- niger wichtig zu seyn, als die Empfindungen, und die Aeußerung der Leidenschaften und des Betragens der intereßirten Personen bey solchen Umständen. Wir wollen den Oedipus, die Königin, seine Freun- de, das Volk hiebey näher kennen lernen, ihre Ge- danken, ihre Leidenschaften, ihr Betragen nach den kleinsten Umständen wissen, und dieses scheinet uns bey dieser Sache das Wichtigste zu seyn. Wenn man uns erzählt, daß ein Schiff durch Sturm so lang in der See gehalten worden, bis alle Lebens- mittel verzehrt worden; daß der Hunger so sehr überhand genommen, daß das Volk einen Menschen geschlachtet, und sich von dessen Fleisch genährt ha- be, und daß in dem Augenblik, da der zweyte sollte geschlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdekt worden, das den Unglüklichen Rettung gebracht; so erstaunt man zwar über einen solchen Fall; aber die nähern Umstände zu wissen, das Jammern der Leute zu hören, ihren Berathschlagungen beyzuwoh- nen, die Empfindungen, Leidenschaften, und das Betragen eines jeden zu sehen, scheinet doch das Wichtigste bey der Sache zu seyn.
Das erste, was der Dichter in Ansehung der Sitten zu beobachten hat, ist, ihnen eine gewisse Größe zu geben. Die Menschen die er handeln läßt, müssen Menschen von der ersten oder obersten Gattung seyn. Nicht eben in Ansehung ihres Ran- ges und Standes, die ihnen nur eine äußerliche Größe geben, die zwar auch etwas zur Würkung beyträgt, aber den Sachen noch nicht den wahren Nachdruk giebt; sondern Menschen, deren Gemüths- kräfte das gewöhnliche Maaß überschreiten. Es giebt unter Menschen vom höchsten Rang kleine schwache Seelen, und unter dem gemeinesten Hau- fen Männer von großem und starkem Gemüthe. Die Größe in den Sitten ist die Größe der Seele, sowol im Guten, als im Bösen. Sie zeiget sich in durch- dringendem Verstand, in starkem männlichen Muth, in kühnen Entschließungen, in Absichten und Be- gierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in gefährlichen oder auf wichtige Dinge abziehlenden Leidenschaften. Jm Trauerspiehl müssen wenigstens die Hauptpersonen Menschen seyn, deren Kräfte, von welcher Art sie seyen, große Veränderungen in Absicht auf Glük und Unglük hervorzubringen im Stande sind.
[Spaltenumbruch]
Tra
Es scheinet, als wenn einige neuere tragische Dich- ter das Große in der Heftigkeit der Leidenschaften sezen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind, ein schlechter Mensch, eine schwache Frauensperson kann in heftige Leidenschaften gerathen. Aber es können vanae sine viribus irae seyn. Ein Kind, das sich über eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeuten- der Mensch, der mit der größten Heftigkeit eine Kleinigkeit zu erhalten sucht, eine schwache Frauens- person, die sonst in der Welt keine wichtige Rolle spiehlt, aber vor Liebe rasend worden, sind keine tragische Gegenstände. Es ist nicht diese Größe, die wir in den Sitten verlangen.
Man muß uns Menschen zeigen, deren Den- kungsart, deren Absichten, deren Triebfedern der Handlungen uns wichtig scheinen, und die im Stand sind, Dinge zu bewürken, die auch in männlichen Gemüthern Furcht oder Bewundrung erweken. Es ist also ganz natürlich, wie wol nicht schlechterdings nothwendig, daß man zum Trauerspiehl Personen vom höchsten Range nimmt. Denn diese haben natür- licher Weise größere Absichten, als geringe Men- schen; ihnen sind gemeiniglich keine Kleinigkeiten mehr wichtig; die größern Geschäfte, deren sie ge- wohnt sind, geben ihnen auch eine größere Den- kungsart; ihre Tugenden und Laster, ihre Fehler und ihre Klugheit sind von wichtigern Folgen. Da es aber auch unter den Großen kleine Seelen giebt, und auch an Höfen der Monarchen bisweilen Klei- nigkeiten durch sehr verwikelte Jntriguen betrieben werden, so hat das Trauerspiehl noch deswegen keine Größe, wenn hohe Personen darin aufgeführt wer- den; denn auch diese können in ihren Sitten ohne alle Größe seyn.
Die Menschen also, die man uns im Trauer- spiehl zeiget, müssen Menschen von einer beträcht- lichen moralischen Größe seyn. Jn ihren Reden und Urtheilen muß sich ein großer Verstand, Kenntniß und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Absichten muß nichts kleines seyn, sondern sie müssen auf Dinge gehen, die kein Mensch von Verstand ver- achten kann; ihr Gemüth muß eine männliche Stär- ke haben, ihre Leidenschaften müssen wichtige Folgen versprechen. Dieses sind die zur Größe der Sitten gehörigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernsthaf- ter und anhaltender Ueberlegung anheim stellen.
Vielleicht fällt hier Jemanden der Zweifel ein, warum eine solche Größe der Sitten im Trauerspiehl
eben
G g g g g g g 3
[Spaltenumbruch]
Tra
rechtſchaffenſten Menſchen ſchrekliche Ungluͤksfaͤlle betreffen koͤnnen. Aber alles dieſes ſcheint doch we- niger wichtig zu ſeyn, als die Empfindungen, und die Aeußerung der Leidenſchaften und des Betragens der intereßirten Perſonen bey ſolchen Umſtaͤnden. Wir wollen den Oedipus, die Koͤnigin, ſeine Freun- de, das Volk hiebey naͤher kennen lernen, ihre Ge- danken, ihre Leidenſchaften, ihr Betragen nach den kleinſten Umſtaͤnden wiſſen, und dieſes ſcheinet uns bey dieſer Sache das Wichtigſte zu ſeyn. Wenn man uns erzaͤhlt, daß ein Schiff durch Sturm ſo lang in der See gehalten worden, bis alle Lebens- mittel verzehrt worden; daß der Hunger ſo ſehr uͤberhand genommen, daß das Volk einen Menſchen geſchlachtet, und ſich von deſſen Fleiſch genaͤhrt ha- be, und daß in dem Augenblik, da der zweyte ſollte geſchlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdekt worden, das den Ungluͤklichen Rettung gebracht; ſo erſtaunt man zwar uͤber einen ſolchen Fall; aber die naͤhern Umſtaͤnde zu wiſſen, das Jammern der Leute zu hoͤren, ihren Berathſchlagungen beyzuwoh- nen, die Empfindungen, Leidenſchaften, und das Betragen eines jeden zu ſehen, ſcheinet doch das Wichtigſte bey der Sache zu ſeyn.
Das erſte, was der Dichter in Anſehung der Sitten zu beobachten hat, iſt, ihnen eine gewiſſe Groͤße zu geben. Die Menſchen die er handeln laͤßt, muͤſſen Menſchen von der erſten oder oberſten Gattung ſeyn. Nicht eben in Anſehung ihres Ran- ges und Standes, die ihnen nur eine aͤußerliche Groͤße geben, die zwar auch etwas zur Wuͤrkung beytraͤgt, aber den Sachen noch nicht den wahren Nachdruk giebt; ſondern Menſchen, deren Gemuͤths- kraͤfte das gewoͤhnliche Maaß uͤberſchreiten. Es giebt unter Menſchen vom hoͤchſten Rang kleine ſchwache Seelen, und unter dem gemeineſten Hau- fen Maͤnner von großem und ſtarkem Gemuͤthe. Die Groͤße in den Sitten iſt die Groͤße der Seele, ſowol im Guten, als im Boͤſen. Sie zeiget ſich in durch- dringendem Verſtand, in ſtarkem maͤnnlichen Muth, in kuͤhnen Entſchließungen, in Abſichten und Be- gierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in gefaͤhrlichen oder auf wichtige Dinge abziehlenden Leidenſchaften. Jm Trauerſpiehl muͤſſen wenigſtens die Hauptperſonen Menſchen ſeyn, deren Kraͤfte, von welcher Art ſie ſeyen, große Veraͤnderungen in Abſicht auf Gluͤk und Ungluͤk hervorzubringen im Stande ſind.
[Spaltenumbruch]
Tra
Es ſcheinet, als wenn einige neuere tragiſche Dich- ter das Große in der Heftigkeit der Leidenſchaften ſezen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind, ein ſchlechter Menſch, eine ſchwache Frauensperſon kann in heftige Leidenſchaften gerathen. Aber es koͤnnen vanæ ſine viribus iræ ſeyn. Ein Kind, das ſich uͤber eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeuten- der Menſch, der mit der groͤßten Heftigkeit eine Kleinigkeit zu erhalten ſucht, eine ſchwache Frauens- perſon, die ſonſt in der Welt keine wichtige Rolle ſpiehlt, aber vor Liebe raſend worden, ſind keine tragiſche Gegenſtaͤnde. Es iſt nicht dieſe Groͤße, die wir in den Sitten verlangen.
Man muß uns Menſchen zeigen, deren Den- kungsart, deren Abſichten, deren Triebfedern der Handlungen uns wichtig ſcheinen, und die im Stand ſind, Dinge zu bewuͤrken, die auch in maͤnnlichen Gemuͤthern Furcht oder Bewundrung erweken. Es iſt alſo ganz natuͤrlich, wie wol nicht ſchlechterdings nothwendig, daß man zum Trauerſpiehl Perſonen vom hoͤchſten Range nimmt. Denn dieſe haben natuͤr- licher Weiſe groͤßere Abſichten, als geringe Men- ſchen; ihnen ſind gemeiniglich keine Kleinigkeiten mehr wichtig; die groͤßern Geſchaͤfte, deren ſie ge- wohnt ſind, geben ihnen auch eine groͤßere Den- kungsart; ihre Tugenden und Laſter, ihre Fehler und ihre Klugheit ſind von wichtigern Folgen. Da es aber auch unter den Großen kleine Seelen giebt, und auch an Hoͤfen der Monarchen bisweilen Klei- nigkeiten durch ſehr verwikelte Jntriguen betrieben werden, ſo hat das Trauerſpiehl noch deswegen keine Groͤße, wenn hohe Perſonen darin aufgefuͤhrt wer- den; denn auch dieſe koͤnnen in ihren Sitten ohne alle Groͤße ſeyn.
Die Menſchen alſo, die man uns im Trauer- ſpiehl zeiget, muͤſſen Menſchen von einer betraͤcht- lichen moraliſchen Groͤße ſeyn. Jn ihren Reden und Urtheilen muß ſich ein großer Verſtand, Kenntniß und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Abſichten muß nichts kleines ſeyn, ſondern ſie muͤſſen auf Dinge gehen, die kein Menſch von Verſtand ver- achten kann; ihr Gemuͤth muß eine maͤnnliche Staͤr- ke haben, ihre Leidenſchaften muͤſſen wichtige Folgen verſprechen. Dieſes ſind die zur Groͤße der Sitten gehoͤrigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernſthaf- ter und anhaltender Ueberlegung anheim ſtellen.
Vielleicht faͤllt hier Jemanden der Zweifel ein, warum eine ſolche Groͤße der Sitten im Trauerſpiehl
eben
G g g g g g g 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0604"n="1175[1157]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Tra</hi></fw><lb/>
rechtſchaffenſten Menſchen ſchrekliche Ungluͤksfaͤlle<lb/>
betreffen koͤnnen. Aber alles dieſes ſcheint doch we-<lb/>
niger wichtig zu ſeyn, als die Empfindungen, und<lb/>
die Aeußerung der Leidenſchaften und des Betragens<lb/>
der intereßirten Perſonen bey ſolchen Umſtaͤnden.<lb/>
Wir wollen den Oedipus, die Koͤnigin, ſeine Freun-<lb/>
de, das Volk hiebey naͤher kennen lernen, ihre Ge-<lb/>
danken, ihre Leidenſchaften, ihr Betragen nach den<lb/>
kleinſten Umſtaͤnden wiſſen, und dieſes ſcheinet uns<lb/>
bey dieſer Sache das Wichtigſte zu ſeyn. Wenn<lb/>
man uns erzaͤhlt, daß ein Schiff durch Sturm ſo<lb/>
lang in der See gehalten worden, bis alle Lebens-<lb/>
mittel verzehrt worden; daß der Hunger ſo ſehr<lb/>
uͤberhand genommen, daß das Volk einen Menſchen<lb/>
geſchlachtet, und ſich von deſſen Fleiſch genaͤhrt ha-<lb/>
be, und daß in dem Augenblik, da der zweyte ſollte<lb/>
geſchlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdekt<lb/>
worden, das den Ungluͤklichen Rettung gebracht;<lb/>ſo erſtaunt man zwar uͤber einen ſolchen Fall; aber<lb/>
die naͤhern Umſtaͤnde zu wiſſen, das Jammern der<lb/>
Leute zu hoͤren, ihren Berathſchlagungen beyzuwoh-<lb/>
nen, die Empfindungen, Leidenſchaften, und das<lb/>
Betragen eines jeden zu ſehen, ſcheinet doch das<lb/>
Wichtigſte bey der Sache zu ſeyn.</p><lb/><p>Das erſte, was der Dichter in Anſehung der<lb/>
Sitten zu beobachten hat, iſt, ihnen eine gewiſſe<lb/>
Groͤße zu geben. Die Menſchen die er handeln<lb/>
laͤßt, muͤſſen Menſchen von der erſten oder oberſten<lb/>
Gattung ſeyn. Nicht eben in Anſehung ihres Ran-<lb/>
ges und Standes, die ihnen nur eine aͤußerliche<lb/>
Groͤße geben, die zwar auch etwas zur Wuͤrkung<lb/>
beytraͤgt, aber den Sachen noch nicht den wahren<lb/>
Nachdruk giebt; ſondern Menſchen, deren Gemuͤths-<lb/>
kraͤfte das gewoͤhnliche Maaß uͤberſchreiten. Es<lb/>
giebt unter Menſchen vom hoͤchſten Rang kleine<lb/>ſchwache Seelen, und unter dem gemeineſten Hau-<lb/>
fen Maͤnner von großem und ſtarkem Gemuͤthe. Die<lb/>
Groͤße in den Sitten iſt die Groͤße der Seele, ſowol<lb/>
im Guten, als im Boͤſen. Sie zeiget ſich in durch-<lb/>
dringendem Verſtand, in ſtarkem maͤnnlichen Muth,<lb/>
in kuͤhnen Entſchließungen, in Abſichten und Be-<lb/>
gierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in<lb/>
gefaͤhrlichen oder auf wichtige Dinge abziehlenden<lb/>
Leidenſchaften. Jm Trauerſpiehl muͤſſen wenigſtens<lb/>
die Hauptperſonen Menſchen ſeyn, deren Kraͤfte,<lb/>
von welcher Art ſie ſeyen, große Veraͤnderungen in<lb/>
Abſicht auf Gluͤk und Ungluͤk hervorzubringen im<lb/>
Stande ſind.</p><lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Tra</hi></fw><lb/><p>Es ſcheinet, als wenn einige neuere tragiſche Dich-<lb/>
ter das Große in der Heftigkeit der Leidenſchaften<lb/>ſezen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind,<lb/>
ein ſchlechter Menſch, eine ſchwache Frauensperſon<lb/>
kann in heftige Leidenſchaften gerathen. Aber es<lb/>
koͤnnen <hirendition="#aq">vanæ ſine viribus iræ</hi>ſeyn. Ein Kind, das<lb/>ſich uͤber eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeuten-<lb/>
der Menſch, der mit der groͤßten Heftigkeit eine<lb/>
Kleinigkeit zu erhalten ſucht, eine ſchwache Frauens-<lb/>
perſon, die ſonſt in der Welt keine wichtige Rolle<lb/>ſpiehlt, aber vor Liebe raſend worden, ſind keine<lb/>
tragiſche Gegenſtaͤnde. Es iſt nicht dieſe Groͤße, die<lb/>
wir in den Sitten verlangen.</p><lb/><p>Man muß uns Menſchen zeigen, deren Den-<lb/>
kungsart, deren Abſichten, deren Triebfedern der<lb/>
Handlungen uns wichtig ſcheinen, und die im Stand<lb/>ſind, Dinge zu bewuͤrken, die auch in maͤnnlichen<lb/>
Gemuͤthern Furcht oder Bewundrung erweken. Es<lb/>
iſt alſo ganz natuͤrlich, wie wol nicht ſchlechterdings<lb/>
nothwendig, daß man zum Trauerſpiehl Perſonen vom<lb/>
hoͤchſten Range nimmt. Denn dieſe haben natuͤr-<lb/>
licher Weiſe groͤßere Abſichten, als geringe Men-<lb/>ſchen; ihnen ſind gemeiniglich keine Kleinigkeiten<lb/>
mehr wichtig; die groͤßern Geſchaͤfte, deren ſie ge-<lb/>
wohnt ſind, geben ihnen auch eine groͤßere Den-<lb/>
kungsart; ihre Tugenden und Laſter, ihre Fehler<lb/>
und ihre Klugheit ſind von wichtigern Folgen. Da<lb/>
es aber auch unter den Großen kleine Seelen giebt,<lb/>
und auch an Hoͤfen der Monarchen bisweilen Klei-<lb/>
nigkeiten durch ſehr verwikelte Jntriguen betrieben<lb/>
werden, ſo hat das Trauerſpiehl noch deswegen keine<lb/>
Groͤße, wenn hohe Perſonen darin aufgefuͤhrt wer-<lb/>
den; denn auch dieſe koͤnnen in ihren Sitten ohne<lb/>
alle Groͤße ſeyn.</p><lb/><p>Die Menſchen alſo, die man uns im Trauer-<lb/>ſpiehl zeiget, muͤſſen Menſchen von einer betraͤcht-<lb/>
lichen moraliſchen Groͤße ſeyn. Jn ihren Reden und<lb/>
Urtheilen muß ſich ein großer Verſtand, Kenntniß<lb/>
und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Abſichten<lb/>
muß nichts kleines ſeyn, ſondern ſie muͤſſen auf<lb/>
Dinge gehen, die kein Menſch von Verſtand ver-<lb/>
achten kann; ihr Gemuͤth muß eine maͤnnliche Staͤr-<lb/>
ke haben, ihre Leidenſchaften muͤſſen wichtige Folgen<lb/>
verſprechen. Dieſes ſind die zur Groͤße der Sitten<lb/>
gehoͤrigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernſthaf-<lb/>
ter und anhaltender Ueberlegung anheim ſtellen.</p><lb/><p>Vielleicht faͤllt hier Jemanden der Zweifel ein,<lb/>
warum eine ſolche Groͤße der Sitten im Trauerſpiehl<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G g g g g g g 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">eben</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[1175[1157]/0604]
Tra
Tra
rechtſchaffenſten Menſchen ſchrekliche Ungluͤksfaͤlle
betreffen koͤnnen. Aber alles dieſes ſcheint doch we-
niger wichtig zu ſeyn, als die Empfindungen, und
die Aeußerung der Leidenſchaften und des Betragens
der intereßirten Perſonen bey ſolchen Umſtaͤnden.
Wir wollen den Oedipus, die Koͤnigin, ſeine Freun-
de, das Volk hiebey naͤher kennen lernen, ihre Ge-
danken, ihre Leidenſchaften, ihr Betragen nach den
kleinſten Umſtaͤnden wiſſen, und dieſes ſcheinet uns
bey dieſer Sache das Wichtigſte zu ſeyn. Wenn
man uns erzaͤhlt, daß ein Schiff durch Sturm ſo
lang in der See gehalten worden, bis alle Lebens-
mittel verzehrt worden; daß der Hunger ſo ſehr
uͤberhand genommen, daß das Volk einen Menſchen
geſchlachtet, und ſich von deſſen Fleiſch genaͤhrt ha-
be, und daß in dem Augenblik, da der zweyte ſollte
geſchlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdekt
worden, das den Ungluͤklichen Rettung gebracht;
ſo erſtaunt man zwar uͤber einen ſolchen Fall; aber
die naͤhern Umſtaͤnde zu wiſſen, das Jammern der
Leute zu hoͤren, ihren Berathſchlagungen beyzuwoh-
nen, die Empfindungen, Leidenſchaften, und das
Betragen eines jeden zu ſehen, ſcheinet doch das
Wichtigſte bey der Sache zu ſeyn.
Das erſte, was der Dichter in Anſehung der
Sitten zu beobachten hat, iſt, ihnen eine gewiſſe
Groͤße zu geben. Die Menſchen die er handeln
laͤßt, muͤſſen Menſchen von der erſten oder oberſten
Gattung ſeyn. Nicht eben in Anſehung ihres Ran-
ges und Standes, die ihnen nur eine aͤußerliche
Groͤße geben, die zwar auch etwas zur Wuͤrkung
beytraͤgt, aber den Sachen noch nicht den wahren
Nachdruk giebt; ſondern Menſchen, deren Gemuͤths-
kraͤfte das gewoͤhnliche Maaß uͤberſchreiten. Es
giebt unter Menſchen vom hoͤchſten Rang kleine
ſchwache Seelen, und unter dem gemeineſten Hau-
fen Maͤnner von großem und ſtarkem Gemuͤthe. Die
Groͤße in den Sitten iſt die Groͤße der Seele, ſowol
im Guten, als im Boͤſen. Sie zeiget ſich in durch-
dringendem Verſtand, in ſtarkem maͤnnlichen Muth,
in kuͤhnen Entſchließungen, in Abſichten und Be-
gierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in
gefaͤhrlichen oder auf wichtige Dinge abziehlenden
Leidenſchaften. Jm Trauerſpiehl muͤſſen wenigſtens
die Hauptperſonen Menſchen ſeyn, deren Kraͤfte,
von welcher Art ſie ſeyen, große Veraͤnderungen in
Abſicht auf Gluͤk und Ungluͤk hervorzubringen im
Stande ſind.
Es ſcheinet, als wenn einige neuere tragiſche Dich-
ter das Große in der Heftigkeit der Leidenſchaften
ſezen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind,
ein ſchlechter Menſch, eine ſchwache Frauensperſon
kann in heftige Leidenſchaften gerathen. Aber es
koͤnnen vanæ ſine viribus iræ ſeyn. Ein Kind, das
ſich uͤber eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeuten-
der Menſch, der mit der groͤßten Heftigkeit eine
Kleinigkeit zu erhalten ſucht, eine ſchwache Frauens-
perſon, die ſonſt in der Welt keine wichtige Rolle
ſpiehlt, aber vor Liebe raſend worden, ſind keine
tragiſche Gegenſtaͤnde. Es iſt nicht dieſe Groͤße, die
wir in den Sitten verlangen.
Man muß uns Menſchen zeigen, deren Den-
kungsart, deren Abſichten, deren Triebfedern der
Handlungen uns wichtig ſcheinen, und die im Stand
ſind, Dinge zu bewuͤrken, die auch in maͤnnlichen
Gemuͤthern Furcht oder Bewundrung erweken. Es
iſt alſo ganz natuͤrlich, wie wol nicht ſchlechterdings
nothwendig, daß man zum Trauerſpiehl Perſonen vom
hoͤchſten Range nimmt. Denn dieſe haben natuͤr-
licher Weiſe groͤßere Abſichten, als geringe Men-
ſchen; ihnen ſind gemeiniglich keine Kleinigkeiten
mehr wichtig; die groͤßern Geſchaͤfte, deren ſie ge-
wohnt ſind, geben ihnen auch eine groͤßere Den-
kungsart; ihre Tugenden und Laſter, ihre Fehler
und ihre Klugheit ſind von wichtigern Folgen. Da
es aber auch unter den Großen kleine Seelen giebt,
und auch an Hoͤfen der Monarchen bisweilen Klei-
nigkeiten durch ſehr verwikelte Jntriguen betrieben
werden, ſo hat das Trauerſpiehl noch deswegen keine
Groͤße, wenn hohe Perſonen darin aufgefuͤhrt wer-
den; denn auch dieſe koͤnnen in ihren Sitten ohne
alle Groͤße ſeyn.
Die Menſchen alſo, die man uns im Trauer-
ſpiehl zeiget, muͤſſen Menſchen von einer betraͤcht-
lichen moraliſchen Groͤße ſeyn. Jn ihren Reden und
Urtheilen muß ſich ein großer Verſtand, Kenntniß
und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Abſichten
muß nichts kleines ſeyn, ſondern ſie muͤſſen auf
Dinge gehen, die kein Menſch von Verſtand ver-
achten kann; ihr Gemuͤth muß eine maͤnnliche Staͤr-
ke haben, ihre Leidenſchaften muͤſſen wichtige Folgen
verſprechen. Dieſes ſind die zur Groͤße der Sitten
gehoͤrigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernſthaf-
ter und anhaltender Ueberlegung anheim ſtellen.
Vielleicht faͤllt hier Jemanden der Zweifel ein,
warum eine ſolche Groͤße der Sitten im Trauerſpiehl
eben
G g g g g g g 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1175[1157]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/604>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.