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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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oder Veranlassung einer wichtigen Handlung weiß,
hat man die Aufmerksamkeit völlig auf das gerich-
tet, was nun vorgeht.

Dieses ist nicht so zu verstehen, daß das Trauer-
spiehl nothwendig bey der ersten Veranlassung zur
Handlung anfangen müsse. Denn dieses wäre
vielmehr ein Fehler. Die Veranlassung gehört noch
nicht zur Handlung selbst. Aber man muß sie dem
Zuschauer zu wissen thun; zwar kann dieses gesche-
hen, wenn die Handlung schon angegangen, aber
es muß bald geschehen. So fängt Sophokles sei-
nen Ajax nicht damit an, daß er uns sehen läßt,
aus welcher Ursache und wie er rasend wird, er ist
es schon. Aber wir erfahren gleich, warum er es
geworden, und dieses ist der wahre Anfang der
Handlung. Der Dichter, der seine Kunst versteht,
eröffnet die Handlung gleich damit, daß er uns
Personen sehen läßt, die eine große Angelegenheit
beschäftiget. Dies fängt an, unsre Aufmerksamkeit
zu reizen; denn unterrichtet er uns bald, welche
Angelegenheit dieses ist, und woher sie kommt, da-
mit wir desto richtiger beurtheilen können, was ge-
schieht. Der Unterricht von der Veranlassung und
den Ursachen der Handlung, den wir durch die han-
delnden Personen bekommen, wird die Ankündigung
genennt, wobey verschiedenes zu bedenken ist, das
wir in dem besondern Artikel darüber näher be-
stimmt haben. So sehen wir in dem Oedipus in
Theben des Sophokles, daß das ganze Volk mit
großer Feyerlichkeit und Trauer sich vor dem Pallast
ihres Königs versammelt. Dies ist der Anfang
des Trauerspiehls, aber nicht der Handlung. Wir
erfahren aber bald aus dem Antrag des Priesters
an den König, daß eine schrekliche Pest seit einiger
Zeit in Theben herrscht, daß dieses verderbliche
Uebel eine Strafe der Götter sey, wegen des unge-
rochen gebliebenen Mordes des vorigen Königs, und
daß das Volk kommt, wo möglich die Entdekung
des Mörders und seine Bestrafung zu bewürken,
dieses ist der Anfang der Handlung.

Die Handlung muß ihr Ende haben; das ist so
viel, es muß etwas geschehen, was auf einmal die
Thätigkeit aller handelnden Personen hemmt oder
überflüßig macht; etwas woraus klar erhellet, war-
um izt die Personen, die wir so beschäftiget gesehen,
aufhören zu handeln. Dieses geschieht entweder,
wenn sie ihren Endzwek erreicht haben, oder in die
Unmöglichkeit gesezt worden, ihre Würksamkeit in
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Absicht auf das Jnteresse der Handlung fortzusezen.
Dieses ist nothwendig, weil sonst der Zuschauer in
Ungewißheit über den Ausgang der Sache bleibt,
welche ihm Nachdenken verursachet, und seine Auf-
merksamkeit von den Hauptgegenständen abzieht;
weil er sonst einen großen Theil des Nuzens, den
das Schauspiehl ihm geben soll, vermißt, da er
nicht sieht, was für einen Ausgang die Unterneh-
mungen der handelnden Personen gehabt haben.
Wenn man das Verhalten der Menschen bey Unter-
nehmungen beurtheilen soll, so muß man der Sache
bis zum Ende nachgehen. Dieser Theil des Trauer-
spiehls, in welchem die Handlung ihr Ende erreicht,
heißt der Ausgang, und wir haben, das was da-
bey zu merken ist, in einen besondern Artikel vor-
getragen.

Endlich gehört auch zur Vollständigkeit der Hand-
lung, daß man den ganzen Verlauf der Sachen er-
fahre, und über keinen Umstand in Ungewißheit
bleibe, woher er gekommen, oder was er in der Sa-
che verändert habe; daß man den völligen Zusam-
menhang der Sachen erkenne, und daß keine Wür-
kung vorkomme, deren Ursache verborgen geblieben.
Denn sonst würde unser Urtheil über die Sachen un-
gewiß, und wir würden in zerstreuende Zweifel
gerathen.

Und hieraus läßt sich sehen, daß der Philosoph
dessen Regeln wir hier erläutern, sie nicht ohne wich-
tige Gründe vorgeschrieben habe. Eben so verhält
sichs auch mit dem, was er von der Größe sagt,
die er nicht ausmißt, sondern blos durch einen Fin-
gerzeig angiebt, indem er sagt, die Handlung müsse
eine anständige Größe haben. Jn der That wird
ein verständiger Dichter hierüber nicht lange in Unge-
wißheit seyn. Eine Handlung die in wenig Minu-
ten ihr Ende erreicht, schikt sich zu keinem Schau-
spiehl, weil in so kurzer Zeit die Charaktere und Lei-
denschaften der handelnden Personen sich nicht sehr
entwikeln können, und weil es überhaupt angenhemer
ist, einen interessanten Gegenstand so lange zu ver-
folgen, daß man einigermaaßen gesätiget wird.
Die Dauer der Handlung, nämlich des bloßen Zu-
schauens derselben muß wenigstens eine Stunde ein-
nehmen, weil sie sonst die Begierde mehr reizen, als
befriedigen würde.

Auf der andern Seite aber muß sie auch nicht
von einer ermüdenden Länge seyn. Das beste
Schauspiehl, das unsre Aufmerksamkeit in beständi-

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Tra
oder Veranlaſſung einer wichtigen Handlung weiß,
hat man die Aufmerkſamkeit voͤllig auf das gerich-
tet, was nun vorgeht.

Dieſes iſt nicht ſo zu verſtehen, daß das Trauer-
ſpiehl nothwendig bey der erſten Veranlaſſung zur
Handlung anfangen muͤſſe. Denn dieſes waͤre
vielmehr ein Fehler. Die Veranlaſſung gehoͤrt noch
nicht zur Handlung ſelbſt. Aber man muß ſie dem
Zuſchauer zu wiſſen thun; zwar kann dieſes geſche-
hen, wenn die Handlung ſchon angegangen, aber
es muß bald geſchehen. So faͤngt Sophokles ſei-
nen Ajax nicht damit an, daß er uns ſehen laͤßt,
aus welcher Urſache und wie er raſend wird, er iſt
es ſchon. Aber wir erfahren gleich, warum er es
geworden, und dieſes iſt der wahre Anfang der
Handlung. Der Dichter, der ſeine Kunſt verſteht,
eroͤffnet die Handlung gleich damit, daß er uns
Perſonen ſehen laͤßt, die eine große Angelegenheit
beſchaͤftiget. Dies faͤngt an, unſre Aufmerkſamkeit
zu reizen; denn unterrichtet er uns bald, welche
Angelegenheit dieſes iſt, und woher ſie kommt, da-
mit wir deſto richtiger beurtheilen koͤnnen, was ge-
ſchieht. Der Unterricht von der Veranlaſſung und
den Urſachen der Handlung, den wir durch die han-
delnden Perſonen bekommen, wird die Ankuͤndigung
genennt, wobey verſchiedenes zu bedenken iſt, das
wir in dem beſondern Artikel daruͤber naͤher be-
ſtimmt haben. So ſehen wir in dem Oedipus in
Theben des Sophokles, daß das ganze Volk mit
großer Feyerlichkeit und Trauer ſich vor dem Pallaſt
ihres Koͤnigs verſammelt. Dies iſt der Anfang
des Trauerſpiehls, aber nicht der Handlung. Wir
erfahren aber bald aus dem Antrag des Prieſters
an den Koͤnig, daß eine ſchrekliche Peſt ſeit einiger
Zeit in Theben herrſcht, daß dieſes verderbliche
Uebel eine Strafe der Goͤtter ſey, wegen des unge-
rochen gebliebenen Mordes des vorigen Koͤnigs, und
daß das Volk kommt, wo moͤglich die Entdekung
des Moͤrders und ſeine Beſtrafung zu bewuͤrken,
dieſes iſt der Anfang der Handlung.

Die Handlung muß ihr Ende haben; das iſt ſo
viel, es muß etwas geſchehen, was auf einmal die
Thaͤtigkeit aller handelnden Perſonen hemmt oder
uͤberfluͤßig macht; etwas woraus klar erhellet, war-
um izt die Perſonen, die wir ſo beſchaͤftiget geſehen,
aufhoͤren zu handeln. Dieſes geſchieht entweder,
wenn ſie ihren Endzwek erreicht haben, oder in die
Unmoͤglichkeit geſezt worden, ihre Wuͤrkſamkeit in
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Abſicht auf das Jntereſſe der Handlung fortzuſezen.
Dieſes iſt nothwendig, weil ſonſt der Zuſchauer in
Ungewißheit uͤber den Ausgang der Sache bleibt,
welche ihm Nachdenken verurſachet, und ſeine Auf-
merkſamkeit von den Hauptgegenſtaͤnden abzieht;
weil er ſonſt einen großen Theil des Nuzens, den
das Schauſpiehl ihm geben ſoll, vermißt, da er
nicht ſieht, was fuͤr einen Ausgang die Unterneh-
mungen der handelnden Perſonen gehabt haben.
Wenn man das Verhalten der Menſchen bey Unter-
nehmungen beurtheilen ſoll, ſo muß man der Sache
bis zum Ende nachgehen. Dieſer Theil des Trauer-
ſpiehls, in welchem die Handlung ihr Ende erreicht,
heißt der Ausgang, und wir haben, das was da-
bey zu merken iſt, in einen beſondern Artikel vor-
getragen.

Endlich gehoͤrt auch zur Vollſtaͤndigkeit der Hand-
lung, daß man den ganzen Verlauf der Sachen er-
fahre, und uͤber keinen Umſtand in Ungewißheit
bleibe, woher er gekommen, oder was er in der Sa-
che veraͤndert habe; daß man den voͤlligen Zuſam-
menhang der Sachen erkenne, und daß keine Wuͤr-
kung vorkomme, deren Urſache verborgen geblieben.
Denn ſonſt wuͤrde unſer Urtheil uͤber die Sachen un-
gewiß, und wir wuͤrden in zerſtreuende Zweifel
gerathen.

Und hieraus laͤßt ſich ſehen, daß der Philoſoph
deſſen Regeln wir hier erlaͤutern, ſie nicht ohne wich-
tige Gruͤnde vorgeſchrieben habe. Eben ſo verhaͤlt
ſichs auch mit dem, was er von der Groͤße ſagt,
die er nicht ausmißt, ſondern blos durch einen Fin-
gerzeig angiebt, indem er ſagt, die Handlung muͤſſe
eine anſtaͤndige Groͤße haben. Jn der That wird
ein verſtaͤndiger Dichter hieruͤber nicht lange in Unge-
wißheit ſeyn. Eine Handlung die in wenig Minu-
ten ihr Ende erreicht, ſchikt ſich zu keinem Schau-
ſpiehl, weil in ſo kurzer Zeit die Charaktere und Lei-
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ſchauens derſelben muß wenigſtens eine Stunde ein-
nehmen, weil ſie ſonſt die Begierde mehr reizen, als
befriedigen wuͤrde.

Auf der andern Seite aber muß ſie auch nicht
von einer ermuͤdenden Laͤnge ſeyn. Das beſte
Schauſpiehl, das unſre Aufmerkſamkeit in beſtaͤndi-

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[1173[1155]/0602] Tra Tra oder Veranlaſſung einer wichtigen Handlung weiß, hat man die Aufmerkſamkeit voͤllig auf das gerich- tet, was nun vorgeht. Dieſes iſt nicht ſo zu verſtehen, daß das Trauer- ſpiehl nothwendig bey der erſten Veranlaſſung zur Handlung anfangen muͤſſe. Denn dieſes waͤre vielmehr ein Fehler. Die Veranlaſſung gehoͤrt noch nicht zur Handlung ſelbſt. Aber man muß ſie dem Zuſchauer zu wiſſen thun; zwar kann dieſes geſche- hen, wenn die Handlung ſchon angegangen, aber es muß bald geſchehen. So faͤngt Sophokles ſei- nen Ajax nicht damit an, daß er uns ſehen laͤßt, aus welcher Urſache und wie er raſend wird, er iſt es ſchon. Aber wir erfahren gleich, warum er es geworden, und dieſes iſt der wahre Anfang der Handlung. Der Dichter, der ſeine Kunſt verſteht, eroͤffnet die Handlung gleich damit, daß er uns Perſonen ſehen laͤßt, die eine große Angelegenheit beſchaͤftiget. Dies faͤngt an, unſre Aufmerkſamkeit zu reizen; denn unterrichtet er uns bald, welche Angelegenheit dieſes iſt, und woher ſie kommt, da- mit wir deſto richtiger beurtheilen koͤnnen, was ge- ſchieht. Der Unterricht von der Veranlaſſung und den Urſachen der Handlung, den wir durch die han- delnden Perſonen bekommen, wird die Ankuͤndigung genennt, wobey verſchiedenes zu bedenken iſt, das wir in dem beſondern Artikel daruͤber naͤher be- ſtimmt haben. So ſehen wir in dem Oedipus in Theben des Sophokles, daß das ganze Volk mit großer Feyerlichkeit und Trauer ſich vor dem Pallaſt ihres Koͤnigs verſammelt. Dies iſt der Anfang des Trauerſpiehls, aber nicht der Handlung. Wir erfahren aber bald aus dem Antrag des Prieſters an den Koͤnig, daß eine ſchrekliche Peſt ſeit einiger Zeit in Theben herrſcht, daß dieſes verderbliche Uebel eine Strafe der Goͤtter ſey, wegen des unge- rochen gebliebenen Mordes des vorigen Koͤnigs, und daß das Volk kommt, wo moͤglich die Entdekung des Moͤrders und ſeine Beſtrafung zu bewuͤrken, dieſes iſt der Anfang der Handlung. Die Handlung muß ihr Ende haben; das iſt ſo viel, es muß etwas geſchehen, was auf einmal die Thaͤtigkeit aller handelnden Perſonen hemmt oder uͤberfluͤßig macht; etwas woraus klar erhellet, war- um izt die Perſonen, die wir ſo beſchaͤftiget geſehen, aufhoͤren zu handeln. Dieſes geſchieht entweder, wenn ſie ihren Endzwek erreicht haben, oder in die Unmoͤglichkeit geſezt worden, ihre Wuͤrkſamkeit in Abſicht auf das Jntereſſe der Handlung fortzuſezen. Dieſes iſt nothwendig, weil ſonſt der Zuſchauer in Ungewißheit uͤber den Ausgang der Sache bleibt, welche ihm Nachdenken verurſachet, und ſeine Auf- merkſamkeit von den Hauptgegenſtaͤnden abzieht; weil er ſonſt einen großen Theil des Nuzens, den das Schauſpiehl ihm geben ſoll, vermißt, da er nicht ſieht, was fuͤr einen Ausgang die Unterneh- mungen der handelnden Perſonen gehabt haben. Wenn man das Verhalten der Menſchen bey Unter- nehmungen beurtheilen ſoll, ſo muß man der Sache bis zum Ende nachgehen. Dieſer Theil des Trauer- ſpiehls, in welchem die Handlung ihr Ende erreicht, heißt der Ausgang, und wir haben, das was da- bey zu merken iſt, in einen beſondern Artikel vor- getragen. Endlich gehoͤrt auch zur Vollſtaͤndigkeit der Hand- lung, daß man den ganzen Verlauf der Sachen er- fahre, und uͤber keinen Umſtand in Ungewißheit bleibe, woher er gekommen, oder was er in der Sa- che veraͤndert habe; daß man den voͤlligen Zuſam- menhang der Sachen erkenne, und daß keine Wuͤr- kung vorkomme, deren Urſache verborgen geblieben. Denn ſonſt wuͤrde unſer Urtheil uͤber die Sachen un- gewiß, und wir wuͤrden in zerſtreuende Zweifel gerathen. Und hieraus laͤßt ſich ſehen, daß der Philoſoph deſſen Regeln wir hier erlaͤutern, ſie nicht ohne wich- tige Gruͤnde vorgeſchrieben habe. Eben ſo verhaͤlt ſichs auch mit dem, was er von der Groͤße ſagt, die er nicht ausmißt, ſondern blos durch einen Fin- gerzeig angiebt, indem er ſagt, die Handlung muͤſſe eine anſtaͤndige Groͤße haben. Jn der That wird ein verſtaͤndiger Dichter hieruͤber nicht lange in Unge- wißheit ſeyn. Eine Handlung die in wenig Minu- ten ihr Ende erreicht, ſchikt ſich zu keinem Schau- ſpiehl, weil in ſo kurzer Zeit die Charaktere und Lei- denſchaften der handelnden Perſonen ſich nicht ſehr entwikeln koͤnnen, und weil es uͤberhaupt angenhemer iſt, einen intereſſanten Gegenſtand ſo lange zu ver- folgen, daß man einigermaaßen geſaͤtiget wird. Die Dauer der Handlung, naͤmlich des bloßen Zu- ſchauens derſelben muß wenigſtens eine Stunde ein- nehmen, weil ſie ſonſt die Begierde mehr reizen, als befriedigen wuͤrde. Auf der andern Seite aber muß ſie auch nicht von einer ermuͤdenden Laͤnge ſeyn. Das beſte Schauſpiehl, das unſre Aufmerkſamkeit in beſtaͤndi- ger G g g g g g g 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1173[1155]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/602>, abgerufen am 24.11.2024.