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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Stu

Bisweilen aber hat der andre Theil der Strophe
ganz andre Verse, und alsdenn unterscheiden sich
die beyden Abschnitte noch merklicher, wie hier:

Hier auf diesem Aschenkruge,
Weint die Freundschaft ihren Schmerz,
Und mit diamantnen Pfluge
Zieht der Kummer Furchen in mein Herz.
Finsterniß und Stille!
Unter eurer Hülle,
Lad' ich Erd' und Himmel zum Gehör.
Klagen will ich: Ach, mein Liebling
Jst nicht mehr. (*)

Diese Doppelstrophen gleichen den Tanzmelodien, die
insgemein ebenfalls aus zwey Theilen bestehen, die
sich im Ton unterscheiden. Bisweilen unterscheidet
sich die zweyte Hälfte der Doppelstrophe von der
ersten auch durch das Sylbenmaaß.

Die Doppelstrophen geben den Liedern große An-
nehmlichkeit, wegen der Veränderung des Tones,
besonders wenn im zweyten Theil auch der Rhyth-
mus sich ändert, wie in der so eben angeführten
Strophe. Die eigentliche Ode scheinet die Doppel-
strophe weniger zu vertragen.

Studium.
(Schöne Künste.)

Zu einem vollkommenen Künstler werden drey Dinge
zugleich erfodert, Genie, Kenntnis und Fertigkeit.
Das erste giebt die Natur, das zweyte wird durch
das Studium, und das dritte durch Uebung erlan-
get. Wir verstehen also durch Studium alle Be-
mühungen, die der Künstler anzuwenden hat, um
die Kenntnisse jeder Art, die ihm nöthig sind, zu er-
langen. Bisweilen giebt man dem Wort auch eine
weitere Bedeutung, und begreift auch die Uebung
selbst mit darunter; wir sprechen aber von dieser
besonders. Doch schließen wir die Uebung nicht
ganz vom Studium aus; denn es gehöret noch einiger-
maaßen mit zum Studiren, daß man sich in der
Fertigkeit zu sehen und zu empfinden übe. Der
Mahler muß sein Aug, der Tonsezer sein Ohr, und
jeder Künstler überhaupt Verstand, Geschmak und
Empfindung an allen Gegenständen der Kunst üben;
und dieses ist von der eigentlichen Uebung, das, was
man empfunden hat, auszudrüken, unterschieden,
und kann noch zum Studium gerechnet werden.

Wenn man Natur und Kunst gegen einander
stellt, in der Absicht zu erforschen, was jede zum
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Stu
vollkommenen Künstler beytrage, so gehört auch
das Studium zur Kunst: und so hat es Horaz ohne
Zweifel verstanden, wenn er beyden einen gleichen
Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zu-
schreibt. Das Genie, und was man überhaupt
Gaben der Natur nennt, sie bestehen in äußerlichen,
oder innerlichen Fähigkeiten, machen eigentlich die
Grundlage des Künstlers aus; aber man würde
sich sehr betrügen, wenn man glaubte, daß außer
dem denn weiter nichts, als äußerliche Uebung in
dem Mechanischen der Kunst hinzukommen müsse.
Man betrachte nur die Werke der Künstler, die vor-
zügliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes-
pear; so wird man sich bald überzeugen, daß sie
die Gegenstände ihrer Kunst mit weit mehr Fleis
und Genauigkeit betrachtet und überlegt haben,
als andre Menschen thun, und daß eben dieses ihr
Genie in stand gesezt hat, sich in dem hellen Lichte
zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil-
derung sichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein-
mischt, bemerkt man einen Menschen, der mit aus-
serordentlicher Aufmerksamkeit jeden Gegenstand be-
trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau
Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt,
ihn in der höchsten Klarheit und Lebhaftigkeit zu
sehen. Eben so deutlich erhellet aus Shakespears
sittlichen und leidenschaftlichen Schilderungen, daß
er sich ein ernstliches Studium daraus gemacht hat,
jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenschaft,
bis auf das Jnnerste ihrer Beschaffenheit zu erfor-
schen. Es ist deswegen eben so wichtig zu studiren,
als Talente zu haben; denn beydes muß da seyn,
wenn der Künstler groß werden soll.

Aber es ist bey der Theorie der Kunst nicht ge-
nug, daß man den Künstler von der Nothwendigkeit
des Studirens überzeuge, man muß ihm auch sa-
gen, wie er sein Studium am vortheilhaftesten ein-
zurichten habe. Mancher geht lang in der Jrre
herum, und giebt sich viel Müh, die ihm zulezt we-
nig hilft, weil er auf Nebensachen studirt hat. Die-
jenigen Kunstrichter und Künstler, die gründlichen
Unterricht zu der vortheilhaftesten Art in jeder Kunst
zu studiren, gäben, würden dadurch jungen Künst-
lern einen sehr wichtigen Dienst erweisen. Wir hal-
ten eine aus der Natur der Sachen hergeleitete An-
weisung zum Studiren für nüzlicher als alle Regeln,
weil das wahre Studium jeden die Regeln selbst er-
finden läßt.

Von
(*) Die
Karschinn.
Zweyter Theil. Z z z z z z
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Stu

Bisweilen aber hat der andre Theil der Strophe
ganz andre Verſe, und alsdenn unterſcheiden ſich
die beyden Abſchnitte noch merklicher, wie hier:

Hier auf dieſem Aſchenkruge,
Weint die Freundſchaft ihren Schmerz,
Und mit diamantnen Pfluge
Zieht der Kummer Furchen in mein Herz.
Finſterniß und Stille!
Unter eurer Huͤlle,
Lad’ ich Erd’ und Himmel zum Gehoͤr.
Klagen will ich: Ach, mein Liebling
Jſt nicht mehr. (*)

Dieſe Doppelſtrophen gleichen den Tanzmelodien, die
insgemein ebenfalls aus zwey Theilen beſtehen, die
ſich im Ton unterſcheiden. Bisweilen unterſcheidet
ſich die zweyte Haͤlfte der Doppelſtrophe von der
erſten auch durch das Sylbenmaaß.

Die Doppelſtrophen geben den Liedern große An-
nehmlichkeit, wegen der Veraͤnderung des Tones,
beſonders wenn im zweyten Theil auch der Rhyth-
mus ſich aͤndert, wie in der ſo eben angefuͤhrten
Strophe. Die eigentliche Ode ſcheinet die Doppel-
ſtrophe weniger zu vertragen.

Studium.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Zu einem vollkommenen Kuͤnſtler werden drey Dinge
zugleich erfodert, Genie, Kenntnis und Fertigkeit.
Das erſte giebt die Natur, das zweyte wird durch
das Studium, und das dritte durch Uebung erlan-
get. Wir verſtehen alſo durch Studium alle Be-
muͤhungen, die der Kuͤnſtler anzuwenden hat, um
die Kenntniſſe jeder Art, die ihm noͤthig ſind, zu er-
langen. Bisweilen giebt man dem Wort auch eine
weitere Bedeutung, und begreift auch die Uebung
ſelbſt mit darunter; wir ſprechen aber von dieſer
beſonders. Doch ſchließen wir die Uebung nicht
ganz vom Studium aus; denn es gehoͤret noch einiger-
maaßen mit zum Studiren, daß man ſich in der
Fertigkeit zu ſehen und zu empfinden uͤbe. Der
Mahler muß ſein Aug, der Tonſezer ſein Ohr, und
jeder Kuͤnſtler uͤberhaupt Verſtand, Geſchmak und
Empfindung an allen Gegenſtaͤnden der Kunſt uͤben;
und dieſes iſt von der eigentlichen Uebung, das, was
man empfunden hat, auszudruͤken, unterſchieden,
und kann noch zum Studium gerechnet werden.

Wenn man Natur und Kunſt gegen einander
ſtellt, in der Abſicht zu erforſchen, was jede zum
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Stu
vollkommenen Kuͤnſtler beytrage, ſo gehoͤrt auch
das Studium zur Kunſt: und ſo hat es Horaz ohne
Zweifel verſtanden, wenn er beyden einen gleichen
Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zu-
ſchreibt. Das Genie, und was man uͤberhaupt
Gaben der Natur nennt, ſie beſtehen in aͤußerlichen,
oder innerlichen Faͤhigkeiten, machen eigentlich die
Grundlage des Kuͤnſtlers aus; aber man wuͤrde
ſich ſehr betruͤgen, wenn man glaubte, daß außer
dem denn weiter nichts, als aͤußerliche Uebung in
dem Mechaniſchen der Kunſt hinzukommen muͤſſe.
Man betrachte nur die Werke der Kuͤnſtler, die vor-
zuͤgliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes-
pear; ſo wird man ſich bald uͤberzeugen, daß ſie
die Gegenſtaͤnde ihrer Kunſt mit weit mehr Fleis
und Genauigkeit betrachtet und uͤberlegt haben,
als andre Menſchen thun, und daß eben dieſes ihr
Genie in ſtand geſezt hat, ſich in dem hellen Lichte
zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil-
derung ſichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein-
miſcht, bemerkt man einen Menſchen, der mit auſ-
ſerordentlicher Aufmerkſamkeit jeden Gegenſtand be-
trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau
Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt,
ihn in der hoͤchſten Klarheit und Lebhaftigkeit zu
ſehen. Eben ſo deutlich erhellet aus Shakeſpears
ſittlichen und leidenſchaftlichen Schilderungen, daß
er ſich ein ernſtliches Studium daraus gemacht hat,
jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenſchaft,
bis auf das Jnnerſte ihrer Beſchaffenheit zu erfor-
ſchen. Es iſt deswegen eben ſo wichtig zu ſtudiren,
als Talente zu haben; denn beydes muß da ſeyn,
wenn der Kuͤnſtler groß werden ſoll.

Aber es iſt bey der Theorie der Kunſt nicht ge-
nug, daß man den Kuͤnſtler von der Nothwendigkeit
des Studirens uͤberzeuge, man muß ihm auch ſa-
gen, wie er ſein Studium am vortheilhafteſten ein-
zurichten habe. Mancher geht lang in der Jrre
herum, und giebt ſich viel Muͤh, die ihm zulezt we-
nig hilft, weil er auf Nebenſachen ſtudirt hat. Die-
jenigen Kunſtrichter und Kuͤnſtler, die gruͤndlichen
Unterricht zu der vortheilhafteſten Art in jeder Kunſt
zu ſtudiren, gaͤben, wuͤrden dadurch jungen Kuͤnſt-
lern einen ſehr wichtigen Dienſt erweiſen. Wir hal-
ten eine aus der Natur der Sachen hergeleitete An-
weiſung zum Studiren fuͤr nuͤzlicher als alle Regeln,
weil das wahre Studium jeden die Regeln ſelbſt er-
finden laͤßt.

Von
(*) Die
Karſchinn.
Zweyter Theil. Z z z z z z
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1115[1097]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/544>, abgerufen am 24.11.2024.