Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch]
Stu Von dem allgemeinen Studiren, das überhaupt Wir haben aber hier eigentlich nur das Studium 1. Jm Grunde sind die schönen Künste nichts anders, als Künste gewissen Absichten gemäß, auf die Gemüther der Menschen zu würken: (*) und hier- aus erhellet hinlänglich, wie wesentlich nothwendig jedem Künstler die Kenntnis der menschlichen Natur ist. Wie könnt' er ohne sie wissen, was in jedem Fall erfodert wird, Eindrüke von gewisser Art auf die Gemüther zu machen? Dieses Studium muß [Spaltenumbruch] Stu der Künstler mit genauer Beobachtung seiner selbstanfangen. Er muß sich angewöhnen, auf alles, was in ihm selbst vorgeht, Acht zu haben, und vor- nehmlich jede Rührung, die mit merklicher Lust oder Unlust verbunden ist, folglich Begierd' oder Abnei- gung erwekt, genau zu beobachten. Ein Mensch der sich selbst nie klar und bestimmt bewußt ist, was er denkt und empfindet, kann auch andere nicht ken- nen lernen. Wie so viel tausend Menschen täglich sprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren sie sich bedienen Acht zu haben, um zu unterscheiden, wie vielerley Arten der Wörter vorkommen, und wie einige davon die Dinge, von denen man spricht, blos bezeichnen, andre ihre fortdaurende Beschaffen- heit, noch andre vorübergehende Veränderungen da- rin ausdruken u. s. f.; so geht es auch überhaupt de- nen, die kein besonderes Studium daraus machen, mit der Kenntnis ihrer selbst; sie reden, handeln, fühlen sich bald angenehm, bald unangenehm gerüh- ret u. s. w. ohne sich jemals der Dinge, die in ihnen vorgehen, deutlich bewußt zu seyn. Sie empfinden jede Leidenschaft, ohne von einer einzigen sagen zu können, was sie eigentlich ist, und wie sie entsteht; sie haben Gefallen oder Mißfallen an vorkommen- den Dingen, und wissen nie zu sagen, was ihnen eigentlich daran gefällt, oder mißfällt. Solche Men- schen gehören zum gemeinen Haufen, der überall mechanisch handelt, wie die Umstände es veranlas- sen, ohne recht zu wissen, was er thut, oder warum er so und nicht anders handelt. Der Künstier, der sich selbst so wenig beobachtete, würde noch weit weniger wissen, was in den Gemü- thern andrer Menschen vorgeht, folglich zu den wich- tigsten Werken der Kunst untüchtig seyn. Durch fleißiges Nachdenken über seine Gedanken, Empfin- dungen, deren Veranlassung und Beschaffenheit aber wird er auch im Stand gesezt, andre Menschen ken- nen zu lernen. 2. Allgemeine Kenntnis der menschlichen Natur ist dem Künstler noch nicht hinlänglich, er hat mehr, wie jeder andere nöthig, die mancherley Charaktere und Sitten der Menschen zu kennen. Denn diese sind der wichtigste Stoff, den jede Kunst bear- beitet, darum muß er ein besonderes Studium da- raus machen, so vielerley Menschen, als ihm mög- lich ist, kennen zu lernen. Er muß sich die Gelegen- heit machen, viel mit Menschen von allerley Art, Stand und Charakter umzugehen; vornehmlich aber die- (*) S. Uebungen. (*) S.
Künste. [Spaltenumbruch]
Stu Von dem allgemeinen Studiren, das uͤberhaupt Wir haben aber hier eigentlich nur das Studium 1. Jm Grunde ſind die ſchoͤnen Kuͤnſte nichts anders, als Kuͤnſte gewiſſen Abſichten gemaͤß, auf die Gemuͤther der Menſchen zu wuͤrken: (*) und hier- aus erhellet hinlaͤnglich, wie weſentlich nothwendig jedem Kuͤnſtler die Kenntnis der menſchlichen Natur iſt. Wie koͤnnt’ er ohne ſie wiſſen, was in jedem Fall erfodert wird, Eindruͤke von gewiſſer Art auf die Gemuͤther zu machen? Dieſes Studium muß [Spaltenumbruch] Stu der Kuͤnſtler mit genauer Beobachtung ſeiner ſelbſtanfangen. Er muß ſich angewoͤhnen, auf alles, was in ihm ſelbſt vorgeht, Acht zu haben, und vor- nehmlich jede Ruͤhrung, die mit merklicher Luſt oder Unluſt verbunden iſt, folglich Begierd’ oder Abnei- gung erwekt, genau zu beobachten. Ein Menſch der ſich ſelbſt nie klar und beſtimmt bewußt iſt, was er denkt und empfindet, kann auch andere nicht ken- nen lernen. Wie ſo viel tauſend Menſchen taͤglich ſprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren ſie ſich bedienen Acht zu haben, um zu unterſcheiden, wie vielerley Arten der Woͤrter vorkommen, und wie einige davon die Dinge, von denen man ſpricht, blos bezeichnen, andre ihre fortdaurende Beſchaffen- heit, noch andre voruͤbergehende Veraͤnderungen da- rin ausdruken u. ſ. f.; ſo geht es auch uͤberhaupt de- nen, die kein beſonderes Studium daraus machen, mit der Kenntnis ihrer ſelbſt; ſie reden, handeln, fuͤhlen ſich bald angenehm, bald unangenehm geruͤh- ret u. ſ. w. ohne ſich jemals der Dinge, die in ihnen vorgehen, deutlich bewußt zu ſeyn. Sie empfinden jede Leidenſchaft, ohne von einer einzigen ſagen zu koͤnnen, was ſie eigentlich iſt, und wie ſie entſteht; ſie haben Gefallen oder Mißfallen an vorkommen- den Dingen, und wiſſen nie zu ſagen, was ihnen eigentlich daran gefaͤllt, oder mißfaͤllt. Solche Men- ſchen gehoͤren zum gemeinen Haufen, der uͤberall mechaniſch handelt, wie die Umſtaͤnde es veranlaſ- ſen, ohne recht zu wiſſen, was er thut, oder warum er ſo und nicht anders handelt. Der Kuͤnſtier, der ſich ſelbſt ſo wenig beobachtete, wuͤrde noch weit weniger wiſſen, was in den Gemuͤ- thern andrer Menſchen vorgeht, folglich zu den wich- tigſten Werken der Kunſt untuͤchtig ſeyn. Durch fleißiges Nachdenken uͤber ſeine Gedanken, Empfin- dungen, deren Veranlaſſung und Beſchaffenheit aber wird er auch im Stand geſezt, andre Menſchen ken- nen zu lernen. 2. Allgemeine Kenntnis der menſchlichen Natur iſt dem Kuͤnſtler noch nicht hinlaͤnglich, er hat mehr, wie jeder andere noͤthig, die mancherley Charaktere und Sitten der Menſchen zu kennen. Denn dieſe ſind der wichtigſte Stoff, den jede Kunſt bear- beitet, darum muß er ein beſonderes Studium da- raus machen, ſo vielerley Menſchen, als ihm moͤg- lich iſt, kennen zu lernen. Er muß ſich die Gelegen- heit machen, viel mit Menſchen von allerley Art, Stand und Charakter umzugehen; vornehmlich aber die- (*) S. Uebungen. (*) S.
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Aber es<lb/> laͤßt ſich allemal vermuthen, daß Unwiſſenheit und<lb/> engere Schranken des Verſtandes, die aus Mangel<lb/> gruͤndlicher Schulſtudien herkommen, auch ſolche<lb/> große Kuͤnſtler in manchem Stuͤk in der Kunſt ſelbſt<lb/> einſchraͤnken. Man ſagt, daß dem großen Raphael<lb/> die Einſichten einiger fuͤrtreflicher Maͤnner von groſ-<lb/> ſer Gelehrſamkeit, die er ſich zu Freunden gemacht<lb/> hat, in manchem Werke, wobey der Mangel an<lb/> Studien ſein Genie etwas wuͤrde gehemmt haben,<lb/> ſehr nuͤzlich geweſen. 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Ein Menſch<lb/> der ſich ſelbſt nie klar und beſtimmt bewußt iſt, was<lb/> er denkt und empfindet, kann auch andere nicht ken-<lb/> nen lernen. Wie ſo viel tauſend Menſchen taͤglich<lb/> ſprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren ſie<lb/> ſich bedienen Acht zu haben, um zu unterſcheiden,<lb/> wie vielerley Arten der Woͤrter vorkommen, und<lb/> wie einige davon die Dinge, von denen man ſpricht,<lb/> blos bezeichnen, andre ihre fortdaurende Beſchaffen-<lb/> heit, noch andre voruͤbergehende Veraͤnderungen da-<lb/> rin ausdruken u. ſ. f.; ſo geht es auch uͤberhaupt de-<lb/> nen, die kein beſonderes Studium daraus machen,<lb/> mit der Kenntnis ihrer ſelbſt; ſie reden, handeln,<lb/> fuͤhlen ſich bald angenehm, bald unangenehm geruͤh-<lb/> ret u. ſ. w. ohne ſich jemals der Dinge, die in ihnen<lb/> vorgehen, deutlich bewußt zu ſeyn. 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Stu
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Von dem allgemeinen Studiren, das uͤberhaupt
die Aufklaͤrung des Verſtandes und Erweiterung der
Vorſtellungskraft zum Zwek hat, und wodurch nicht
nur der Kuͤnſtler, ſondern jeder andere Menſch, der
ſich kuͤnftig in Geſchaͤften, die vorzuͤgliche Gemuͤths-
gaben erfodern, hervorthun ſoll, zu ſeinem Beruffe
vorbereitet wird, wollen wir hier nicht ſprechen;
weil es den zukuͤnftigen Kuͤnſtler nicht allein angeht.
Doch koͤnnen wir nicht unangemerkt laſſen, daß
jede Uebung, wodurch die verſchiedenen Anlagen
des Genies uͤberhaupt entwikelt werden, und jede
Kenntnis, die den Geſichtskreis des Menſchen uͤber-
haupt erweitert, auch dem Kuͤnſtler hoͤchſt nuͤzlich
ſey. Es hat zwar große Kuͤnſtler gegeben, die von
den Schulſtudien voͤllig entbloͤßt geweſen. Aber es
laͤßt ſich allemal vermuthen, daß Unwiſſenheit und
engere Schranken des Verſtandes, die aus Mangel
gruͤndlicher Schulſtudien herkommen, auch ſolche
große Kuͤnſtler in manchem Stuͤk in der Kunſt ſelbſt
einſchraͤnken. Man ſagt, daß dem großen Raphael
die Einſichten einiger fuͤrtreflicher Maͤnner von groſ-
ſer Gelehrſamkeit, die er ſich zu Freunden gemacht
hat, in manchem Werke, wobey der Mangel an
Studien ſein Genie etwas wuͤrde gehemmt haben,
ſehr nuͤzlich geweſen. Darum wuͤrden wir allemal
rathen, dem kuͤnftigen Kuͤnſtler, ſo viel es ohne den
Kunſtuͤbungen Abbruch zu thun, geſchehen kann, (*)
eine ſo genannte gelehrte Erziehung zu geben.
Wenn ſie nur gruͤndlich iſt, ſo wird ſie ihn gewiß
kuͤnftig in der Kunſt ſelbſt einige Grade hoͤher he-
ben, die er ohne dieſelbe nicht wuͤrde erreicht haben.
Wir haben aber hier eigentlich nur das Studium
zu betrachten, daß der Kuͤnſtler bey reiffern Jahren
und blos in Abſicht auf ſeine Kunſt zu treiben hat.
Dieſes geht auf folgende Hauptpunkte: 1. Auf all-
gemeine Kenntnis des Menſchen. 2. Auf Kenntnis
der beſondern Charaktere und Sitten, ganzer Voͤl-
ker und einzeler Menſchen. 3. Auf Kenntnis der
ſichtbaren Natur und 4. auf Kenntnis der Kunſt-
werke und der Kuͤnſtler:
1. Jm Grunde ſind die ſchoͤnen Kuͤnſte nichts
anders, als Kuͤnſte gewiſſen Abſichten gemaͤß, auf die
Gemuͤther der Menſchen zu wuͤrken: (*) und hier-
aus erhellet hinlaͤnglich, wie weſentlich nothwendig
jedem Kuͤnſtler die Kenntnis der menſchlichen Natur
iſt. Wie koͤnnt’ er ohne ſie wiſſen, was in jedem
Fall erfodert wird, Eindruͤke von gewiſſer Art auf
die Gemuͤther zu machen? Dieſes Studium muß
der Kuͤnſtler mit genauer Beobachtung ſeiner ſelbſt
anfangen. Er muß ſich angewoͤhnen, auf alles,
was in ihm ſelbſt vorgeht, Acht zu haben, und vor-
nehmlich jede Ruͤhrung, die mit merklicher Luſt oder
Unluſt verbunden iſt, folglich Begierd’ oder Abnei-
gung erwekt, genau zu beobachten. Ein Menſch
der ſich ſelbſt nie klar und beſtimmt bewußt iſt, was
er denkt und empfindet, kann auch andere nicht ken-
nen lernen. Wie ſo viel tauſend Menſchen taͤglich
ſprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren ſie
ſich bedienen Acht zu haben, um zu unterſcheiden,
wie vielerley Arten der Woͤrter vorkommen, und
wie einige davon die Dinge, von denen man ſpricht,
blos bezeichnen, andre ihre fortdaurende Beſchaffen-
heit, noch andre voruͤbergehende Veraͤnderungen da-
rin ausdruken u. ſ. f.; ſo geht es auch uͤberhaupt de-
nen, die kein beſonderes Studium daraus machen,
mit der Kenntnis ihrer ſelbſt; ſie reden, handeln,
fuͤhlen ſich bald angenehm, bald unangenehm geruͤh-
ret u. ſ. w. ohne ſich jemals der Dinge, die in ihnen
vorgehen, deutlich bewußt zu ſeyn. Sie empfinden
jede Leidenſchaft, ohne von einer einzigen ſagen zu
koͤnnen, was ſie eigentlich iſt, und wie ſie entſteht;
ſie haben Gefallen oder Mißfallen an vorkommen-
den Dingen, und wiſſen nie zu ſagen, was ihnen
eigentlich daran gefaͤllt, oder mißfaͤllt. Solche Men-
ſchen gehoͤren zum gemeinen Haufen, der uͤberall
mechaniſch handelt, wie die Umſtaͤnde es veranlaſ-
ſen, ohne recht zu wiſſen, was er thut, oder warum
er ſo und nicht anders handelt.
Der Kuͤnſtier, der ſich ſelbſt ſo wenig beobachtete,
wuͤrde noch weit weniger wiſſen, was in den Gemuͤ-
thern andrer Menſchen vorgeht, folglich zu den wich-
tigſten Werken der Kunſt untuͤchtig ſeyn. Durch
fleißiges Nachdenken uͤber ſeine Gedanken, Empfin-
dungen, deren Veranlaſſung und Beſchaffenheit aber
wird er auch im Stand geſezt, andre Menſchen ken-
nen zu lernen.
2. Allgemeine Kenntnis der menſchlichen Natur
iſt dem Kuͤnſtler noch nicht hinlaͤnglich, er hat mehr,
wie jeder andere noͤthig, die mancherley Charaktere
und Sitten der Menſchen zu kennen. Denn
dieſe ſind der wichtigſte Stoff, den jede Kunſt bear-
beitet, darum muß er ein beſonderes Studium da-
raus machen, ſo vielerley Menſchen, als ihm moͤg-
lich iſt, kennen zu lernen. Er muß ſich die Gelegen-
heit machen, viel mit Menſchen von allerley Art,
Stand und Charakter umzugehen; vornehmlich aber
die-
(*) S.
Uebungen.
(*) S.
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