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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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schreiten kann, ohne die Einheit des Tones zu ver-
lezen. Cicero der größte Meister in der Kunst der
Perioden, schränkt ihre größte Länge auf das Maaß
von etwa vier Hexametern ein. (+) Zweytens schrän-
ket auch die Deutlichkeit des Sinnes die Länge der
Perioden ein; denn da sie nur einen einzigen Haupt-
gedanken begreift, einen einzigen Sinn giebt, der
erst am Ende vollständig wird: so muß man noth-
wendig jeden einzelen Saz, so unbestimmt, wie er
ist, bis ans Ende behalten können, wo alles Ein-
zele sich zu einer einzigen Vorstellung vereiniget.

Die Periode ist einförmig, wenn sie einen einzi-
gen Saz enthält, zu dem alles Einzele, als Theile
gehören; zwey- oder vielförmig aber, wenn sie
mehr bestimmte Säze enthält, die blos willkührlich,
oder durch keine nothwendige Verbindung in Eines
gezogen sind. Die gleich Anfangs dieses Artikels
angeführte Periode ist einförmig. Folgende Art ist
zweyförmig. "Die Werke der Kunst sind in ihrem
Ursprunge, wie die schönsten Menschen, ungestalt
gewesen | und in ihrer Blüthe und Abnahme glei-
chen sie den großen Flüßen, die, wo sie am brei-
testen seyn sollten, sich in kleine Bäche, oder auch
ganz und gar verlieren." Sie besteht aus zwey
willkührlich zusammen gezogenen Perioden.

Alles, was bis dahin über die Periode gesagt
worden, gehört eigentlich zu ihrer grammatischen
Beschaffenheit; deswegen die verschiedenen Punkte
hier blos berührt sind. Jzt ist es Zeit die Sach von
der Seite des Geschmaks zu betrachten.

Hier muß man zuerst ihre Würkung vor Augen
haben, die überhaupt darin besteht, daß dadurch
viel Vorstellungen oder Urtheile in Eines verbun-
den werden, mithin auf Eines abziehlen, und eine
desto größere oder schnellere Würkung hervorbringen.
Die Rede hat allemal entweder die Schilderung einer
Sache, oder die Festsezung eines Urtheils zum Zwek.
Jm ersten Fall ist sie ein würkliches Gemählde, darin
alles auf eine einzige Hauptvorstellung übereinstimmt,
wo alles so gezeichnet, so colorirt und so angeordnet
seyn muß, wie der lebhafteste Eindruk des Ganzen
es erfodert. Jn dem andern Fall aber ist sie ein
Vernunstschluß, darin jedes einzele auf die Gewiß-
heit und unumstößliche Wahrheit eines einzigen Sa-
zes abziehlt. Wie vortheilhaft und wie so gar un-
entbehrlich die Perioden zu beyden Absichten seyen,
[Spaltenumbruch]

Per
wird sich durch Beyspiehle besser, als durch allge-
meine Beschreibungen zeigen lassen.

Livius erzählt (*) von dem König Antiochus, den
man insgemein den Großen nennt, eine Anekdote,
die ohne den periodirten Vortrag also lauten würde.
"Von Demetrias kam der König nach Chalcis; da
verliebte er sich in ein unverheyrathetes Frauenzim-
mer; sie war die Tochter des Kleoptolemus. Der
König ließ durch Abgeordnete bey dem Vater um sie
anhalten; er schikte zu wiederholten malen an ihn;
endlich hielt er selbst mündlich um sie an. Der Va-
ter hatte nicht Lust sich in die Gefahren eines höhern
Standes zu verwikeln; aber er wurd durch das
viele Schiken und Anhalten ermüdet, er gab seine
Einwilligung, und hierauf wurd das Beylager be-
gangen. Dieses geschah so, als wenn man mitten
im Frieden gelebt hätte." Diese Erzählung glei-
chet einem Gemähld ohne Anordnung und Gruppi-
rung, wo die Personen in einer Linie gestellt sind.
Livius fasset die Erzählung in eine Periode zusam-
men, die man im Deutschen ohngefähr so geben
könnte. "Nachdem der König von Demetrias nach
Chalcis gekommen war, und sich daselbst in ein
Mädchen, des Kleoptolemus Tochter, verliebt hatte,
wurd izt, als er nach langen Anhalten durch an-
dere, zulezt durch eigenes Bitten den Vater des
Frauenzimmers, der keine Lust hatte, sich in die Ge-
fahren eines höhern Standes zu verwikeln, ermü-
det und dessen Einwilligung erhalten hatte, das Bey-
lager so, als wäre man mitten im Frieden, vollzo-
gen." Aber wir wollen den Römer selbst, dessen
Sprach sich zu langen Perioden besser, als die deut-
sche schiket, die Sach erzählen lassen. Rex Cal-
cidem a Demetriade profectus, amore captus virgi-
nis calcidiensis Cleoptolemi filiae, cum patrem pri-
mo adlegando, deinde coram ipse rogando fatigas-
set, invitum se gravioris fortunae conditioni illigan-
tem, tandem impetrata re, tamquam in media pace
nuptias celebrat.

Hier wird jederman die Würkung der Periode
fühlen. Sie enthält eine Schilderung deren Zwek
ist den Leichtsin des Antiochus vorzustellen, der mit-
ten in einem sehr gefährlichen Kriege, sich von sei-
nem Hang zur Wollust so regieren ließ, als wenn
er mitten im Frieden gelebt hätte. Auf diese Haupt-
vorstellung ziehlt jedes Einzele der Erzählung, so

daß
(+) [Spaltenumbruch]
E quatuor igitur quasi hexametrorum instar versuum
[Spaltenumbruch] quod sit, constat sere plena comprehensio. Orat.
66.
(*) Hist.
L. xxxvi.
c.
11.

[Spaltenumbruch]

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ſchreiten kann, ohne die Einheit des Tones zu ver-
lezen. Cicero der groͤßte Meiſter in der Kunſt der
Perioden, ſchraͤnkt ihre groͤßte Laͤnge auf das Maaß
von etwa vier Hexametern ein. (†) Zweytens ſchraͤn-
ket auch die Deutlichkeit des Sinnes die Laͤnge der
Perioden ein; denn da ſie nur einen einzigen Haupt-
gedanken begreift, einen einzigen Sinn giebt, der
erſt am Ende vollſtaͤndig wird: ſo muß man noth-
wendig jeden einzelen Saz, ſo unbeſtimmt, wie er
iſt, bis ans Ende behalten koͤnnen, wo alles Ein-
zele ſich zu einer einzigen Vorſtellung vereiniget.

Die Periode iſt einfoͤrmig, wenn ſie einen einzi-
gen Saz enthaͤlt, zu dem alles Einzele, als Theile
gehoͤren; zwey- oder vielfoͤrmig aber, wenn ſie
mehr beſtimmte Saͤze enthaͤlt, die blos willkuͤhrlich,
oder durch keine nothwendige Verbindung in Eines
gezogen ſind. Die gleich Anfangs dieſes Artikels
angefuͤhrte Periode iſt einfoͤrmig. Folgende Art iſt
zweyfoͤrmig. „Die Werke der Kunſt ſind in ihrem
Urſprunge, wie die ſchoͤnſten Menſchen, ungeſtalt
geweſen | und in ihrer Bluͤthe und Abnahme glei-
chen ſie den großen Fluͤßen, die, wo ſie am brei-
teſten ſeyn ſollten, ſich in kleine Baͤche, oder auch
ganz und gar verlieren.“ Sie beſteht aus zwey
willkuͤhrlich zuſammen gezogenen Perioden.

Alles, was bis dahin uͤber die Periode geſagt
worden, gehoͤrt eigentlich zu ihrer grammatiſchen
Beſchaffenheit; deswegen die verſchiedenen Punkte
hier blos beruͤhrt ſind. Jzt iſt es Zeit die Sach von
der Seite des Geſchmaks zu betrachten.

Hier muß man zuerſt ihre Wuͤrkung vor Augen
haben, die uͤberhaupt darin beſteht, daß dadurch
viel Vorſtellungen oder Urtheile in Eines verbun-
den werden, mithin auf Eines abziehlen, und eine
deſto groͤßere oder ſchnellere Wuͤrkung hervorbringen.
Die Rede hat allemal entweder die Schilderung einer
Sache, oder die Feſtſezung eines Urtheils zum Zwek.
Jm erſten Fall iſt ſie ein wuͤrkliches Gemaͤhlde, darin
alles auf eine einzige Hauptvorſtellung uͤbereinſtimmt,
wo alles ſo gezeichnet, ſo colorirt und ſo angeordnet
ſeyn muß, wie der lebhafteſte Eindruk des Ganzen
es erfodert. Jn dem andern Fall aber iſt ſie ein
Vernunſtſchluß, darin jedes einzele auf die Gewiß-
heit und unumſtoͤßliche Wahrheit eines einzigen Sa-
zes abziehlt. Wie vortheilhaft und wie ſo gar un-
entbehrlich die Perioden zu beyden Abſichten ſeyen,
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Per
wird ſich durch Beyſpiehle beſſer, als durch allge-
meine Beſchreibungen zeigen laſſen.

Livius erzaͤhlt (*) von dem Koͤnig Antiochus, den
man insgemein den Großen nennt, eine Anekdote,
die ohne den periodirten Vortrag alſo lauten wuͤrde.
„Von Demetrias kam der Koͤnig nach Chalcis; da
verliebte er ſich in ein unverheyrathetes Frauenzim-
mer; ſie war die Tochter des Kleoptolemus. Der
Koͤnig ließ durch Abgeordnete bey dem Vater um ſie
anhalten; er ſchikte zu wiederholten malen an ihn;
endlich hielt er ſelbſt muͤndlich um ſie an. Der Va-
ter hatte nicht Luſt ſich in die Gefahren eines hoͤhern
Standes zu verwikeln; aber er wurd durch das
viele Schiken und Anhalten ermuͤdet, er gab ſeine
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gangen. Dieſes geſchah ſo, als wenn man mitten
im Frieden gelebt haͤtte.“ Dieſe Erzaͤhlung glei-
chet einem Gemaͤhld ohne Anordnung und Gruppi-
rung, wo die Perſonen in einer Linie geſtellt ſind.
Livius faſſet die Erzaͤhlung in eine Periode zuſam-
men, die man im Deutſchen ohngefaͤhr ſo geben
koͤnnte. „Nachdem der Koͤnig von Demetrias nach
Chalcis gekommen war, und ſich daſelbſt in ein
Maͤdchen, des Kleoptolemus Tochter, verliebt hatte,
wurd izt, als er nach langen Anhalten durch an-
dere, zulezt durch eigenes Bitten den Vater des
Frauenzimmers, der keine Luſt hatte, ſich in die Ge-
fahren eines hoͤhern Standes zu verwikeln, ermuͤ-
det und deſſen Einwilligung erhalten hatte, das Bey-
lager ſo, als waͤre man mitten im Frieden, vollzo-
gen.“ Aber wir wollen den Roͤmer ſelbſt, deſſen
Sprach ſich zu langen Perioden beſſer, als die deut-
ſche ſchiket, die Sach erzaͤhlen laſſen. Rex Cal-
cidem a Demetriade profectus, amore captus virgi-
nis calcidienſis Cleoptolemi filiæ, cum patrem pri-
mo adlegando, deinde coram ipſe rogando fatigaſ-
ſet, invitum ſe gravioris fortunæ conditioni illigan-
tem, tandem impetrata re, tamquam in media pace
nuptias celebrat.

Hier wird jederman die Wuͤrkung der Periode
fuͤhlen. Sie enthaͤlt eine Schilderung deren Zwek
iſt den Leichtſin des Antiochus vorzuſtellen, der mit-
ten in einem ſehr gefaͤhrlichen Kriege, ſich von ſei-
nem Hang zur Wolluſt ſo regieren ließ, als wenn
er mitten im Frieden gelebt haͤtte. Auf dieſe Haupt-
vorſtellung ziehlt jedes Einzele der Erzaͤhlung, ſo

daß
(†) [Spaltenumbruch]
E quatuor igitur quaſi hexametrorum inſtar verſuum
[Spaltenumbruch] quod ſit, conſtat ſere plena comprehenſio. Orat.
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(*) Hiſt.
L. xxxvi.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 888[870]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/305>, abgerufen am 18.05.2024.