Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Ode
fallen möchte, zu singen: er läßt uns nicht merken,
warum er diesen Wunsch äußert. Gleich dünkt ihn
er höre den Gesang der Muse, die gekommen sey
und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber
izt erzählt er uns, wie er in seiner Kindheit, als er
in einer Wildnis herumschweiffend eingeschlafen,
von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um
vor Schlangen und wilden Thieren sicher zu liegen.
Doch scheinet er uns merken zu lassen, daß er diese
Wolthat den Musen, seinen Schuzgöttinnen zu dan-
ken habe. Denn fährt er voll Empfindung fort die
Musen, für seine Beschüzerinnen zu erkennen, mit
denen er bald auf einem, bald auf einem andern
seiner Landgüter sicher herumirret. Jhnen verdankt
ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi
umgekommen, noch von dem umgestürzten Baum
erschlagen worden. Darum will er, von ihnen be-
gleitet, in die entferntesten fruchtbaresten Länder rei-
sen, und sich unter die wildesten Völker wagen.
Nun kommt er plözlich auf den Cäsar und sagt, daß
er nach unzähligen vollbrachten Arbeiten des Krieges,
da er izt die Ruhe sucht, sie im geheimen Umgange
mit den Musen sinde, rühmet sie, daß sie Lust daran
haben, ihm gelinde Rathschläge einzuflößen. Denn
kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er
sich lang aufhält, und scheinet uns lehren zu wollen,
daß Jupiter von der Pallas unterstüzt, einen leich-
ten Sieg über sie erhalten, obgleich eine fürchterli-
che Macht gegen ihn gestanden. Dieses leitet ihn
auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue-
berlegung unmächtig, hingegen mittelmäßige Stärke
durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Götter
gewinne, und von großer Würkung sey. Denn
lobt er auch von den Göttern, daß sie alle Macht,
die auf Unrecht abziehlt, verabscheuhen, und erwäh-
net zur Bestätigung dieser Anmerkung die Strafen,
die den hundertarmigen Gyges, oder Briaräus,
den verwegenen Orion, den Typhöeus, den Tityus
und den Pirithous betroffen. -- Und damit ist die
Ode zu Ende.

Hier kann man kaum errathen, was für ein Ge-
genstand, oder was für ein Gedanken den Dichter
so lebhaft gerührt hat, daß er in einem so feurigen
Ton, erst die Colliope vom Himmel ruft, denn so
sehr gegen einander abstechende Vorstellungen in die-
sem Gesang vereiniget. Von den Auslegern des
Horaz, sagt einer dieses, ein andrer etwas anderes,
und einige getrauen sich gar nicht das Räthsel auf-
[Spaltenumbruch]

Ode
zulösen; so sehr verstekt ist ofte der Plan des Oden-
dichters.

Weil es doch überhaupt einiges Licht über die
Theorie der im Plan sehr verstekten Ode verbreiten
kann, so will ich meine Gedanken über die Veran-
lassung und den Plan dieser Ode, hieher zu sezen wa-
gen, den Baxter, wie höhnisch auch unser sonst für-
trefliche Geßner dabey lächelt, wie mich dünkt, we-
nigstens zur Hälfte errathen hat.

Cäsar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit
und zulezt auch seine Mittyrannen überwunden, und
war allein Herr über alles. Horaz mochte in einer
vertraulichen Stunde mit einem Freund, vielleicht
dem Mecänas, über die Lage der Sachen sich unter-
redet haben: dabey kann einem von ihnen der Gedan-
ken aufgestoßen seyn, daß diese, auf so große Macht ge-
gründete Herrschaft, vielleicht doch nicht sicher genug
sey. Diese Vorstellung rührte den Dichter auf das
lebhafteste, und dazu war freylich die Sache wichtig
genug. Nun fällt ihm ein, wie dieser Herrschaft
eine völlige Sicherheit zu verschaffen wäre. Cäsar
müßte die Künste der Musen in Flor bringen, dabey
sich durchaus einer gelinden Regierung befleißen,
und alles mit großer, aber wahrhaftig weiser Ueber-
legung veranstalten. Es sey nun, daß der Dichter
seine Gedanken hierüber blos seinem Freund zu er-
öffnen, oder gar den Cäsar selbst errathen zu lassen,
sich vorgesezt habe, so war allemal die Sache höchst
bedenklich, und konnte weder allzudeutlich, noch ge-
radezu gesagt werden. Darum nimmt der Dich-
ter einen großen Umweg, und überläßt dem, für
welchen die Ode geschrieben worden, zu errathen,
was er damit habe sagen wollen.

Die feyerliche Anrufung der Colliope, ist schon
zweydeutig: man konnte sie auslegen, daß der Dich-
ter die Göttin um ihren Beystand für diesen Gesang
anrufte; aber er meinte es so, sie soll kommen, um
mit allen Reizungen ihrer Gesänge dem Cäsar bey-
zustehen, und durch Ermunterung vieler Dichter,
seinen Zeiten Glanz und mannigfaltige Annehmlich-
keit zu geben. Er sieht auch den Anfang dieser guten
Zeit: aber er will nicht zu offenbar sprechen, er
kommt plözlich auf sich selbst zurüke, ohne den Haupt-
gedanken fahren zu lassen, und erzählt, oder erdich-
tet, wie die Musen ihn, weil ein Dichter aus ihm
werden sollte, beschüzt haben, und noch beschüzen.
Dieses ist eine Art Allegorie, wodurch er zu verste-
hen giebt, daß der, der nichts gefährliches, nichts

ge-

[Spaltenumbruch]

Ode
fallen moͤchte, zu ſingen: er laͤßt uns nicht merken,
warum er dieſen Wunſch aͤußert. Gleich duͤnkt ihn
er hoͤre den Geſang der Muſe, die gekommen ſey
und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber
izt erzaͤhlt er uns, wie er in ſeiner Kindheit, als er
in einer Wildnis herumſchweiffend eingeſchlafen,
von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um
vor Schlangen und wilden Thieren ſicher zu liegen.
Doch ſcheinet er uns merken zu laſſen, daß er dieſe
Wolthat den Muſen, ſeinen Schuzgoͤttinnen zu dan-
ken habe. Denn faͤhrt er voll Empfindung fort die
Muſen, fuͤr ſeine Beſchuͤzerinnen zu erkennen, mit
denen er bald auf einem, bald auf einem andern
ſeiner Landguͤter ſicher herumirret. Jhnen verdankt
ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi
umgekommen, noch von dem umgeſtuͤrzten Baum
erſchlagen worden. Darum will er, von ihnen be-
gleitet, in die entfernteſten fruchtbareſten Laͤnder rei-
ſen, und ſich unter die wildeſten Voͤlker wagen.
Nun kommt er ploͤzlich auf den Caͤſar und ſagt, daß
er nach unzaͤhligen vollbrachten Arbeiten des Krieges,
da er izt die Ruhe ſucht, ſie im geheimen Umgange
mit den Muſen ſinde, ruͤhmet ſie, daß ſie Luſt daran
haben, ihm gelinde Rathſchlaͤge einzufloͤßen. Denn
kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er
ſich lang aufhaͤlt, und ſcheinet uns lehren zu wollen,
daß Jupiter von der Pallas unterſtuͤzt, einen leich-
ten Sieg uͤber ſie erhalten, obgleich eine fuͤrchterli-
che Macht gegen ihn geſtanden. Dieſes leitet ihn
auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue-
berlegung unmaͤchtig, hingegen mittelmaͤßige Staͤrke
durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Goͤtter
gewinne, und von großer Wuͤrkung ſey. Denn
lobt er auch von den Goͤttern, daß ſie alle Macht,
die auf Unrecht abziehlt, verabſcheuhen, und erwaͤh-
net zur Beſtaͤtigung dieſer Anmerkung die Strafen,
die den hundertarmigen Gyges, oder Briaraͤus,
den verwegenen Orion, den Typhoͤeus, den Tityus
und den Pirithous betroffen. — Und damit iſt die
Ode zu Ende.

Hier kann man kaum errathen, was fuͤr ein Ge-
genſtand, oder was fuͤr ein Gedanken den Dichter
ſo lebhaft geruͤhrt hat, daß er in einem ſo feurigen
Ton, erſt die Colliope vom Himmel ruft, denn ſo
ſehr gegen einander abſtechende Vorſtellungen in die-
ſem Geſang vereiniget. Von den Auslegern des
Horaz, ſagt einer dieſes, ein andrer etwas anderes,
und einige getrauen ſich gar nicht das Raͤthſel auf-
[Spaltenumbruch]

Ode
zuloͤſen; ſo ſehr verſtekt iſt ofte der Plan des Oden-
dichters.

Weil es doch uͤberhaupt einiges Licht uͤber die
Theorie der im Plan ſehr verſtekten Ode verbreiten
kann, ſo will ich meine Gedanken uͤber die Veran-
laſſung und den Plan dieſer Ode, hieher zu ſezen wa-
gen, den Baxter, wie hoͤhniſch auch unſer ſonſt fuͤr-
trefliche Geßner dabey laͤchelt, wie mich duͤnkt, we-
nigſtens zur Haͤlfte errathen hat.

Caͤſar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit
und zulezt auch ſeine Mittyrannen uͤberwunden, und
war allein Herr uͤber alles. Horaz mochte in einer
vertraulichen Stunde mit einem Freund, vielleicht
dem Mecaͤnas, uͤber die Lage der Sachen ſich unter-
redet haben: dabey kann einem von ihnen der Gedan-
ken aufgeſtoßen ſeyn, daß dieſe, auf ſo große Macht ge-
gruͤndete Herrſchaft, vielleicht doch nicht ſicher genug
ſey. Dieſe Vorſtellung ruͤhrte den Dichter auf das
lebhafteſte, und dazu war freylich die Sache wichtig
genug. Nun faͤllt ihm ein, wie dieſer Herrſchaft
eine voͤllige Sicherheit zu verſchaffen waͤre. Caͤſar
muͤßte die Kuͤnſte der Muſen in Flor bringen, dabey
ſich durchaus einer gelinden Regierung befleißen,
und alles mit großer, aber wahrhaftig weiſer Ueber-
legung veranſtalten. Es ſey nun, daß der Dichter
ſeine Gedanken hieruͤber blos ſeinem Freund zu er-
oͤffnen, oder gar den Caͤſar ſelbſt errathen zu laſſen,
ſich vorgeſezt habe, ſo war allemal die Sache hoͤchſt
bedenklich, und konnte weder allzudeutlich, noch ge-
radezu geſagt werden. Darum nimmt der Dich-
ter einen großen Umweg, und uͤberlaͤßt dem, fuͤr
welchen die Ode geſchrieben worden, zu errathen,
was er damit habe ſagen wollen.

Die feyerliche Anrufung der Colliope, iſt ſchon
zweydeutig: man konnte ſie auslegen, daß der Dich-
ter die Goͤttin um ihren Beyſtand fuͤr dieſen Geſang
anrufte; aber er meinte es ſo, ſie ſoll kommen, um
mit allen Reizungen ihrer Geſaͤnge dem Caͤſar bey-
zuſtehen, und durch Ermunterung vieler Dichter,
ſeinen Zeiten Glanz und mannigfaltige Annehmlich-
keit zu geben. Er ſieht auch den Anfang dieſer guten
Zeit: aber er will nicht zu offenbar ſprechen, er
kommt ploͤzlich auf ſich ſelbſt zuruͤke, ohne den Haupt-
gedanken fahren zu laſſen, und erzaͤhlt, oder erdich-
tet, wie die Muſen ihn, weil ein Dichter aus ihm
werden ſollte, beſchuͤzt haben, und noch beſchuͤzen.
Dieſes iſt eine Art Allegorie, wodurch er zu verſte-
hen giebt, daß der, der nichts gefaͤhrliches, nichts

ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0250" n="833[815]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ode</hi></fw><lb/>
fallen mo&#x0364;chte, zu &#x017F;ingen: er la&#x0364;ßt uns nicht merken,<lb/>
warum er die&#x017F;en Wun&#x017F;ch a&#x0364;ußert. Gleich du&#x0364;nkt ihn<lb/>
er ho&#x0364;re den Ge&#x017F;ang der Mu&#x017F;e, die gekommen &#x017F;ey<lb/>
und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber<lb/>
izt erza&#x0364;hlt er uns, wie er in &#x017F;einer Kindheit, als er<lb/>
in einer Wildnis herum&#x017F;chweiffend einge&#x017F;chlafen,<lb/>
von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um<lb/>
vor Schlangen und wilden Thieren &#x017F;icher zu liegen.<lb/>
Doch &#x017F;cheinet er uns merken zu la&#x017F;&#x017F;en, daß er die&#x017F;e<lb/>
Wolthat den Mu&#x017F;en, &#x017F;einen Schuzgo&#x0364;ttinnen zu dan-<lb/>
ken habe. Denn fa&#x0364;hrt er voll Empfindung fort die<lb/>
Mu&#x017F;en, fu&#x0364;r &#x017F;eine Be&#x017F;chu&#x0364;zerinnen zu erkennen, mit<lb/>
denen er bald auf einem, bald auf einem andern<lb/>
&#x017F;einer Landgu&#x0364;ter &#x017F;icher herumirret. Jhnen verdankt<lb/>
ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi<lb/>
umgekommen, noch von dem umge&#x017F;tu&#x0364;rzten Baum<lb/>
er&#x017F;chlagen worden. Darum will er, von ihnen be-<lb/>
gleitet, in die entfernte&#x017F;ten fruchtbare&#x017F;ten La&#x0364;nder rei-<lb/>
&#x017F;en, und &#x017F;ich unter die wilde&#x017F;ten Vo&#x0364;lker wagen.<lb/>
Nun kommt er plo&#x0364;zlich auf den Ca&#x0364;&#x017F;ar und &#x017F;agt, daß<lb/>
er nach unza&#x0364;hligen vollbrachten Arbeiten des Krieges,<lb/>
da er izt die Ruhe &#x017F;ucht, &#x017F;ie im geheimen Umgange<lb/>
mit den Mu&#x017F;en &#x017F;inde, ru&#x0364;hmet &#x017F;ie, daß &#x017F;ie Lu&#x017F;t daran<lb/>
haben, ihm gelinde Rath&#x017F;chla&#x0364;ge einzuflo&#x0364;ßen. Denn<lb/>
kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er<lb/>
&#x017F;ich lang aufha&#x0364;lt, und &#x017F;cheinet uns lehren zu wollen,<lb/>
daß Jupiter von der Pallas unter&#x017F;tu&#x0364;zt, einen leich-<lb/>
ten Sieg u&#x0364;ber &#x017F;ie erhalten, obgleich eine fu&#x0364;rchterli-<lb/>
che Macht gegen ihn ge&#x017F;tanden. Die&#x017F;es leitet ihn<lb/>
auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue-<lb/>
berlegung unma&#x0364;chtig, hingegen mittelma&#x0364;ßige Sta&#x0364;rke<lb/>
durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Go&#x0364;tter<lb/>
gewinne, und von großer Wu&#x0364;rkung &#x017F;ey. Denn<lb/>
lobt er auch von den Go&#x0364;ttern, daß &#x017F;ie alle Macht,<lb/>
die auf Unrecht abziehlt, verab&#x017F;cheuhen, und erwa&#x0364;h-<lb/>
net zur Be&#x017F;ta&#x0364;tigung die&#x017F;er Anmerkung die Strafen,<lb/>
die den hundertarmigen Gyges, oder Briara&#x0364;us,<lb/>
den verwegenen Orion, den Typho&#x0364;eus, den Tityus<lb/>
und den Pirithous betroffen. &#x2014; Und damit i&#x017F;t die<lb/>
Ode zu Ende.</p><lb/>
          <p>Hier kann man kaum errathen, was fu&#x0364;r ein Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand, oder was fu&#x0364;r ein Gedanken den Dichter<lb/>
&#x017F;o lebhaft geru&#x0364;hrt hat, daß er in einem &#x017F;o feurigen<lb/>
Ton, er&#x017F;t die Colliope vom Himmel ruft, denn &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr gegen einander ab&#x017F;techende Vor&#x017F;tellungen in die-<lb/>
&#x017F;em Ge&#x017F;ang vereiniget. Von den Auslegern des<lb/>
Horaz, &#x017F;agt einer die&#x017F;es, ein andrer etwas anderes,<lb/>
und einige getrauen &#x017F;ich gar nicht das Ra&#x0364;th&#x017F;el auf-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ode</hi></fw><lb/>
zulo&#x0364;&#x017F;en; &#x017F;o &#x017F;ehr ver&#x017F;tekt i&#x017F;t ofte der Plan des Oden-<lb/>
dichters.</p><lb/>
          <p>Weil es doch u&#x0364;berhaupt einiges Licht u&#x0364;ber die<lb/>
Theorie der im Plan &#x017F;ehr ver&#x017F;tekten Ode verbreiten<lb/>
kann, &#x017F;o will ich meine Gedanken u&#x0364;ber die Veran-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;ung und den Plan die&#x017F;er Ode, hieher zu &#x017F;ezen wa-<lb/>
gen, den Baxter, wie ho&#x0364;hni&#x017F;ch auch un&#x017F;er &#x017F;on&#x017F;t fu&#x0364;r-<lb/>
trefliche Geßner dabey la&#x0364;chelt, wie mich du&#x0364;nkt, we-<lb/>
nig&#x017F;tens zur Ha&#x0364;lfte errathen hat.</p><lb/>
          <p>Ca&#x0364;&#x017F;ar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit<lb/>
und zulezt auch &#x017F;eine Mittyrannen u&#x0364;berwunden, und<lb/>
war allein Herr u&#x0364;ber alles. Horaz mochte in einer<lb/>
vertraulichen Stunde mit einem Freund, vielleicht<lb/>
dem Meca&#x0364;nas, u&#x0364;ber die Lage der Sachen &#x017F;ich unter-<lb/>
redet haben: dabey kann einem von ihnen der Gedan-<lb/>
ken aufge&#x017F;toßen &#x017F;eyn, daß die&#x017F;e, auf &#x017F;o große Macht ge-<lb/>
gru&#x0364;ndete Herr&#x017F;chaft, vielleicht doch nicht &#x017F;icher genug<lb/>
&#x017F;ey. Die&#x017F;e Vor&#x017F;tellung ru&#x0364;hrte den Dichter auf das<lb/>
lebhafte&#x017F;te, und dazu war freylich die Sache wichtig<lb/>
genug. Nun fa&#x0364;llt ihm ein, wie die&#x017F;er Herr&#x017F;chaft<lb/>
eine vo&#x0364;llige Sicherheit zu ver&#x017F;chaffen wa&#x0364;re. Ca&#x0364;&#x017F;ar<lb/>
mu&#x0364;ßte die Ku&#x0364;n&#x017F;te der Mu&#x017F;en in Flor bringen, dabey<lb/>
&#x017F;ich durchaus einer gelinden Regierung befleißen,<lb/>
und alles mit großer, aber wahrhaftig wei&#x017F;er Ueber-<lb/>
legung veran&#x017F;talten. Es &#x017F;ey nun, daß der Dichter<lb/>
&#x017F;eine Gedanken hieru&#x0364;ber blos &#x017F;einem Freund zu er-<lb/>
o&#x0364;ffnen, oder gar den Ca&#x0364;&#x017F;ar &#x017F;elb&#x017F;t errathen zu la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;ich vorge&#x017F;ezt habe, &#x017F;o war allemal die Sache ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
bedenklich, und konnte weder allzudeutlich, noch ge-<lb/>
radezu ge&#x017F;agt werden. Darum nimmt der Dich-<lb/>
ter einen großen Umweg, und u&#x0364;berla&#x0364;ßt dem, fu&#x0364;r<lb/>
welchen die Ode ge&#x017F;chrieben worden, zu errathen,<lb/>
was er damit habe &#x017F;agen wollen.</p><lb/>
          <p>Die feyerliche Anrufung der Colliope, i&#x017F;t &#x017F;chon<lb/>
zweydeutig: man konnte &#x017F;ie auslegen, daß der Dich-<lb/>
ter die Go&#x0364;ttin um ihren Bey&#x017F;tand fu&#x0364;r die&#x017F;en Ge&#x017F;ang<lb/>
anrufte; aber er meinte es &#x017F;o, &#x017F;ie &#x017F;oll kommen, um<lb/>
mit allen Reizungen ihrer Ge&#x017F;a&#x0364;nge dem Ca&#x0364;&#x017F;ar bey-<lb/>
zu&#x017F;tehen, und durch Ermunterung vieler Dichter,<lb/>
&#x017F;einen Zeiten Glanz und mannigfaltige Annehmlich-<lb/>
keit zu geben. Er &#x017F;ieht auch den Anfang die&#x017F;er guten<lb/>
Zeit: aber er will nicht zu offenbar &#x017F;prechen, er<lb/>
kommt plo&#x0364;zlich auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zuru&#x0364;ke, ohne den Haupt-<lb/>
gedanken fahren zu la&#x017F;&#x017F;en, und erza&#x0364;hlt, oder erdich-<lb/>
tet, wie die Mu&#x017F;en ihn, weil ein Dichter aus ihm<lb/>
werden &#x017F;ollte, be&#x017F;chu&#x0364;zt haben, und noch be&#x017F;chu&#x0364;zen.<lb/>
Die&#x017F;es i&#x017F;t eine Art Allegorie, wodurch er zu ver&#x017F;te-<lb/>
hen giebt, daß der, der nichts gefa&#x0364;hrliches, nichts<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[833[815]/0250] Ode Ode fallen moͤchte, zu ſingen: er laͤßt uns nicht merken, warum er dieſen Wunſch aͤußert. Gleich duͤnkt ihn er hoͤre den Geſang der Muſe, die gekommen ſey und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber izt erzaͤhlt er uns, wie er in ſeiner Kindheit, als er in einer Wildnis herumſchweiffend eingeſchlafen, von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um vor Schlangen und wilden Thieren ſicher zu liegen. Doch ſcheinet er uns merken zu laſſen, daß er dieſe Wolthat den Muſen, ſeinen Schuzgoͤttinnen zu dan- ken habe. Denn faͤhrt er voll Empfindung fort die Muſen, fuͤr ſeine Beſchuͤzerinnen zu erkennen, mit denen er bald auf einem, bald auf einem andern ſeiner Landguͤter ſicher herumirret. Jhnen verdankt ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi umgekommen, noch von dem umgeſtuͤrzten Baum erſchlagen worden. Darum will er, von ihnen be- gleitet, in die entfernteſten fruchtbareſten Laͤnder rei- ſen, und ſich unter die wildeſten Voͤlker wagen. Nun kommt er ploͤzlich auf den Caͤſar und ſagt, daß er nach unzaͤhligen vollbrachten Arbeiten des Krieges, da er izt die Ruhe ſucht, ſie im geheimen Umgange mit den Muſen ſinde, ruͤhmet ſie, daß ſie Luſt daran haben, ihm gelinde Rathſchlaͤge einzufloͤßen. Denn kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er ſich lang aufhaͤlt, und ſcheinet uns lehren zu wollen, daß Jupiter von der Pallas unterſtuͤzt, einen leich- ten Sieg uͤber ſie erhalten, obgleich eine fuͤrchterli- che Macht gegen ihn geſtanden. Dieſes leitet ihn auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue- berlegung unmaͤchtig, hingegen mittelmaͤßige Staͤrke durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Goͤtter gewinne, und von großer Wuͤrkung ſey. Denn lobt er auch von den Goͤttern, daß ſie alle Macht, die auf Unrecht abziehlt, verabſcheuhen, und erwaͤh- net zur Beſtaͤtigung dieſer Anmerkung die Strafen, die den hundertarmigen Gyges, oder Briaraͤus, den verwegenen Orion, den Typhoͤeus, den Tityus und den Pirithous betroffen. — Und damit iſt die Ode zu Ende. Hier kann man kaum errathen, was fuͤr ein Ge- genſtand, oder was fuͤr ein Gedanken den Dichter ſo lebhaft geruͤhrt hat, daß er in einem ſo feurigen Ton, erſt die Colliope vom Himmel ruft, denn ſo ſehr gegen einander abſtechende Vorſtellungen in die- ſem Geſang vereiniget. Von den Auslegern des Horaz, ſagt einer dieſes, ein andrer etwas anderes, und einige getrauen ſich gar nicht das Raͤthſel auf- zuloͤſen; ſo ſehr verſtekt iſt ofte der Plan des Oden- dichters. Weil es doch uͤberhaupt einiges Licht uͤber die Theorie der im Plan ſehr verſtekten Ode verbreiten kann, ſo will ich meine Gedanken uͤber die Veran- laſſung und den Plan dieſer Ode, hieher zu ſezen wa- gen, den Baxter, wie hoͤhniſch auch unſer ſonſt fuͤr- trefliche Geßner dabey laͤchelt, wie mich duͤnkt, we- nigſtens zur Haͤlfte errathen hat. Caͤſar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit und zulezt auch ſeine Mittyrannen uͤberwunden, und war allein Herr uͤber alles. Horaz mochte in einer vertraulichen Stunde mit einem Freund, vielleicht dem Mecaͤnas, uͤber die Lage der Sachen ſich unter- redet haben: dabey kann einem von ihnen der Gedan- ken aufgeſtoßen ſeyn, daß dieſe, auf ſo große Macht ge- gruͤndete Herrſchaft, vielleicht doch nicht ſicher genug ſey. Dieſe Vorſtellung ruͤhrte den Dichter auf das lebhafteſte, und dazu war freylich die Sache wichtig genug. Nun faͤllt ihm ein, wie dieſer Herrſchaft eine voͤllige Sicherheit zu verſchaffen waͤre. Caͤſar muͤßte die Kuͤnſte der Muſen in Flor bringen, dabey ſich durchaus einer gelinden Regierung befleißen, und alles mit großer, aber wahrhaftig weiſer Ueber- legung veranſtalten. Es ſey nun, daß der Dichter ſeine Gedanken hieruͤber blos ſeinem Freund zu er- oͤffnen, oder gar den Caͤſar ſelbſt errathen zu laſſen, ſich vorgeſezt habe, ſo war allemal die Sache hoͤchſt bedenklich, und konnte weder allzudeutlich, noch ge- radezu geſagt werden. Darum nimmt der Dich- ter einen großen Umweg, und uͤberlaͤßt dem, fuͤr welchen die Ode geſchrieben worden, zu errathen, was er damit habe ſagen wollen. Die feyerliche Anrufung der Colliope, iſt ſchon zweydeutig: man konnte ſie auslegen, daß der Dich- ter die Goͤttin um ihren Beyſtand fuͤr dieſen Geſang anrufte; aber er meinte es ſo, ſie ſoll kommen, um mit allen Reizungen ihrer Geſaͤnge dem Caͤſar bey- zuſtehen, und durch Ermunterung vieler Dichter, ſeinen Zeiten Glanz und mannigfaltige Annehmlich- keit zu geben. Er ſieht auch den Anfang dieſer guten Zeit: aber er will nicht zu offenbar ſprechen, er kommt ploͤzlich auf ſich ſelbſt zuruͤke, ohne den Haupt- gedanken fahren zu laſſen, und erzaͤhlt, oder erdich- tet, wie die Muſen ihn, weil ein Dichter aus ihm werden ſollte, beſchuͤzt haben, und noch beſchuͤzen. Dieſes iſt eine Art Allegorie, wodurch er zu verſte- hen giebt, daß der, der nichts gefaͤhrliches, nichts ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/250
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 833[815]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/250>, abgerufen am 06.05.2024.