ster wiederholt werden, scheinet blos zufällig zu seyn, ob sie gleich izt beynahe zum Gesez geworden.
Dieses scheinet also der allgemeine Charakter al- ler Oden zu seyn.
Jn besondern Zügen aber herrscht eine unendliche Mannigfaltigkeit. Jn dem Ton ist sie entweder hoch, auch wol durchaus erhaben, oder sie ist blos ernst- haft und pathetisch, oder gar wol nur klein, launisch, oder lieblich. So viel Schattirungen des Tones von der durchdringenden Trompete und stürmenden Pauke, bis auf den sanften Ton der Flöte sind, so vielfältig kann der Ton seyn, in welchem der Oden- dichter singt: und in dem Ton ist die Ode bald durch- aus gleich, bald steigend, bald fallend. Eben so mannigfaltig ist sie in dem Plan, oder der Ordnung der Gedanken. Bisweilen läßt sie uns den Dichter in lebhafter Empfindung sehen, deren Veranlassung wir nicht wissen, bis er ganz zulezt den Gegenstand kurz anzeiget, der ihn in diesen ausserordentlichen Zustand gesezt hat. So ist Klopstoks Ode an Bod- mer. Der Dichter fängt ungemein feyerlich und pathetisch an:
Der die Schikungen lenkt, heißet den frömmsten Wunsch Mancher Seeligkeit goldenes Bild Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor, Wo ein Sterblicher gehen will.
Jn diesem Ton und in dieser Materie über die ver- borgenen Wege der Vorsicht fährt der Dichter bis gegen das Ende fort, ohne uns merken zu lassen, wodurch diese feyerlich ernsthafte Betrachtung ver- anlasset worden. Ganz am End entdeken wir sie, da der Dichter sie kurz anzeiget, und nun schweiget. Er kommt zulezt auf diese Betrachtung:
Oft erfüllet er (Gott der das Schiksal geordnet) auch, was das erzitternde Volle Herz kaum zu wünschen wagt. Wie von Träumen erwacht, sehen wir denn unser Glück, Sehns mit Augen und glaubens kaum.
Und nun zeiget er uns erst die Veranlassung aller dieser Betrachtungen, indem er schließt:
Dieses Glücke ward mir, als ich zum erstenmal Bodmers Armen entgegen kam.
Anderemale läßt der Dichter gleich anfangs den Ge- genstand, der ihn besebt, sehen, verweilet sich kurz da- bey, verliehrt ihn denn aus dem Gesicht, und hält [Spaltenumbruch]
Ode
sich bis ans Ende, mit Aeußerung der Empfindun- gen auf, die er in ihm veranlasset hat. Ein Bey- spiel hievon giebt uns Horazens Ode auf den über die See fahrenden Virgil. Der Dichter zeiget uns gleich seinen Gegenstand, indem er mit dem Wunsch anfängt, daß das Schiff, dem die Hälfte seiner Seele anvertraut ist, glüklich fahren möge. Denn verläßt er diesen Gegenstand: die Sorge für seinen Freund führet ihn auf verdrießliche Betrachtungen über die Kühnheit der Menschen, die es zuerst ge- wagt haben, die See zu befahren; dann kommt er in dieser Laune auf noch allgemeinere Betrachtun- gen über die Verwegenheit der Menschen, die alles wagt, was sie nicht wagen sollte, bis er mit dem übertriebenen Gedanken schließt:Coelum ipsum petimus stultitia; neque Per nostrum patimur scelus Jracunda Iovem ponere sulmina
Hier ist also der Plan der angeführten Klopstokischen Ode gerad umgekehrt. Beyde zeigen uns den Ge- genstand, der den Dichter ins Feuer gesezt nur einen Augenblik, und halten sich durch die ganze Ode bey der Würkung desselben auf ihr Gemüth auf.
Andremale füllt der Gegenstand allein den ganzen Gesang aus. So ist die zehnte Ode des Horaz im ersten Buch, ein Lobgesaug auf den Mercurius, ohne die geringste Ausschweifung auf Nebensachen; der Dichter wendet sein Aug mit keinen einzigen Blik von seinem Gegenstand ab. Klopstoks Ode die beyden Musen, ist eine höchst poetische Beschrei- bung des Gegenstandes, ohne die geringste Aus- schweiffung auf Nebensachen; und die meisten Oden des Anakreons sind liebliche Schilderungen eines Gegenstandes, den der Dichter nicht einen Augen- blik verläßt.
Jn andern Oden wechseln Ursach und Würkungen wechselsweis ab. Der Dichter macht zwar öftere, aber kurze Ausschweifungen von seinem Gegenstand, kommt aber bald wieder auf ihn zurük. Oft aber sehen wir ihn in einem hohen poetischen Taumel, dessen Veranlassung wir kaum errathen, und unter dessen mannigfaltigen Wendungen wir kaum einen Zusammenhang erbliken. Ein Beyspiehl hiervon giebt uns Horazens vierte Ode im dritten Buch. Der Dichter fängt an die Calliope, die vornehmste der Musen, vom Himmel herunter zu rufen, und bittet sie irgend ein langes Lied, in welchem Ton es ihr ge-
fallen
[Spaltenumbruch]
Ode
ſter wiederholt werden, ſcheinet blos zufaͤllig zu ſeyn, ob ſie gleich izt beynahe zum Geſez geworden.
Dieſes ſcheinet alſo der allgemeine Charakter al- ler Oden zu ſeyn.
Jn beſondern Zuͤgen aber herrſcht eine unendliche Mannigfaltigkeit. Jn dem Ton iſt ſie entweder hoch, auch wol durchaus erhaben, oder ſie iſt blos ernſt- haft und pathetiſch, oder gar wol nur klein, launiſch, oder lieblich. So viel Schattirungen des Tones von der durchdringenden Trompete und ſtuͤrmenden Pauke, bis auf den ſanften Ton der Floͤte ſind, ſo vielfaͤltig kann der Ton ſeyn, in welchem der Oden- dichter ſingt: und in dem Ton iſt die Ode bald durch- aus gleich, bald ſteigend, bald fallend. Eben ſo mannigfaltig iſt ſie in dem Plan, oder der Ordnung der Gedanken. Bisweilen laͤßt ſie uns den Dichter in lebhafter Empfindung ſehen, deren Veranlaſſung wir nicht wiſſen, bis er ganz zulezt den Gegenſtand kurz anzeiget, der ihn in dieſen auſſerordentlichen Zuſtand geſezt hat. So iſt Klopſtoks Ode an Bod- mer. Der Dichter faͤngt ungemein feyerlich und pathetiſch an:
Der die Schikungen lenkt, heißet den froͤmmſten Wunſch Mancher Seeligkeit goldenes Bild Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor, Wo ein Sterblicher gehen will.
Jn dieſem Ton und in dieſer Materie uͤber die ver- borgenen Wege der Vorſicht faͤhrt der Dichter bis gegen das Ende fort, ohne uns merken zu laſſen, wodurch dieſe feyerlich ernſthafte Betrachtung ver- anlaſſet worden. Ganz am End entdeken wir ſie, da der Dichter ſie kurz anzeiget, und nun ſchweiget. Er kommt zulezt auf dieſe Betrachtung:
Oft erfuͤllet er (Gott der das Schikſal geordnet) auch, was das erzitternde Volle Herz kaum zu wuͤnſchen wagt. Wie von Traͤumen erwacht, ſehen wir denn unſer Gluͤck, Sehns mit Augen und glaubens kaum.
Und nun zeiget er uns erſt die Veranlaſſung aller dieſer Betrachtungen, indem er ſchließt:
Dieſes Gluͤcke ward mir, als ich zum erſtenmal Bodmers Armen entgegen kam.
Anderemale laͤßt der Dichter gleich anfangs den Ge- genſtand, der ihn beſebt, ſehen, verweilet ſich kurz da- bey, verliehrt ihn denn aus dem Geſicht, und haͤlt [Spaltenumbruch]
Ode
ſich bis ans Ende, mit Aeußerung der Empfindun- gen auf, die er in ihm veranlaſſet hat. Ein Bey- ſpiel hievon giebt uns Horazens Ode auf den uͤber die See fahrenden Virgil. Der Dichter zeiget uns gleich ſeinen Gegenſtand, indem er mit dem Wunſch anfaͤngt, daß das Schiff, dem die Haͤlfte ſeiner Seele anvertraut iſt, gluͤklich fahren moͤge. Denn verlaͤßt er dieſen Gegenſtand: die Sorge fuͤr ſeinen Freund fuͤhret ihn auf verdrießliche Betrachtungen uͤber die Kuͤhnheit der Menſchen, die es zuerſt ge- wagt haben, die See zu befahren; dann kommt er in dieſer Laune auf noch allgemeinere Betrachtun- gen uͤber die Verwegenheit der Menſchen, die alles wagt, was ſie nicht wagen ſollte, bis er mit dem uͤbertriebenen Gedanken ſchließt:Cœlum ipſum petimus ſtultitia; neque Per noſtrum patimur ſcelus Jracunda Iovem ponere ſulmina
Hier iſt alſo der Plan der angefuͤhrten Klopſtokiſchen Ode gerad umgekehrt. Beyde zeigen uns den Ge- genſtand, der den Dichter ins Feuer geſezt nur einen Augenblik, und halten ſich durch die ganze Ode bey der Wuͤrkung deſſelben auf ihr Gemuͤth auf.
Andremale fuͤllt der Gegenſtand allein den ganzen Geſang aus. So iſt die zehnte Ode des Horaz im erſten Buch, ein Lobgeſaug auf den Mercurius, ohne die geringſte Ausſchweifung auf Nebenſachen; der Dichter wendet ſein Aug mit keinen einzigen Blik von ſeinem Gegenſtand ab. Klopſtoks Ode die beyden Muſen, iſt eine hoͤchſt poetiſche Beſchrei- bung des Gegenſtandes, ohne die geringſte Aus- ſchweiffung auf Nebenſachen; und die meiſten Oden des Anakreons ſind liebliche Schilderungen eines Gegenſtandes, den der Dichter nicht einen Augen- blik verlaͤßt.
Jn andern Oden wechſeln Urſach und Wuͤrkungen wechſelsweis ab. Der Dichter macht zwar oͤftere, aber kurze Ausſchweifungen von ſeinem Gegenſtand, kommt aber bald wieder auf ihn zuruͤk. Oft aber ſehen wir ihn in einem hohen poetiſchen Taumel, deſſen Veranlaſſung wir kaum errathen, und unter deſſen mannigfaltigen Wendungen wir kaum einen Zuſammenhang erbliken. Ein Beyſpiehl hiervon giebt uns Horazens vierte Ode im dritten Buch. Der Dichter faͤngt an die Calliope, die vornehmſte der Muſen, vom Himmel herunter zu rufen, und bittet ſie irgend ein langes Lied, in welchem Ton es ihr ge-
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[832[814]/0249]
Ode
Ode
ſter wiederholt werden, ſcheinet blos zufaͤllig zu
ſeyn, ob ſie gleich izt beynahe zum Geſez geworden.
Dieſes ſcheinet alſo der allgemeine Charakter al-
ler Oden zu ſeyn.
Jn beſondern Zuͤgen aber herrſcht eine unendliche
Mannigfaltigkeit. Jn dem Ton iſt ſie entweder hoch,
auch wol durchaus erhaben, oder ſie iſt blos ernſt-
haft und pathetiſch, oder gar wol nur klein, launiſch,
oder lieblich. So viel Schattirungen des Tones
von der durchdringenden Trompete und ſtuͤrmenden
Pauke, bis auf den ſanften Ton der Floͤte ſind, ſo
vielfaͤltig kann der Ton ſeyn, in welchem der Oden-
dichter ſingt: und in dem Ton iſt die Ode bald durch-
aus gleich, bald ſteigend, bald fallend. Eben ſo
mannigfaltig iſt ſie in dem Plan, oder der Ordnung
der Gedanken. Bisweilen laͤßt ſie uns den Dichter
in lebhafter Empfindung ſehen, deren Veranlaſſung
wir nicht wiſſen, bis er ganz zulezt den Gegenſtand
kurz anzeiget, der ihn in dieſen auſſerordentlichen
Zuſtand geſezt hat. So iſt Klopſtoks Ode an Bod-
mer. Der Dichter faͤngt ungemein feyerlich und
pathetiſch an:
Der die Schikungen lenkt, heißet den froͤmmſten
Wunſch
Mancher Seeligkeit goldenes Bild
Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor,
Wo ein Sterblicher gehen will.
Jn dieſem Ton und in dieſer Materie uͤber die ver-
borgenen Wege der Vorſicht faͤhrt der Dichter bis
gegen das Ende fort, ohne uns merken zu laſſen,
wodurch dieſe feyerlich ernſthafte Betrachtung ver-
anlaſſet worden. Ganz am End entdeken wir ſie,
da der Dichter ſie kurz anzeiget, und nun ſchweiget.
Er kommt zulezt auf dieſe Betrachtung:
Oft erfuͤllet er (Gott der das Schikſal geordnet) auch,
was das erzitternde
Volle Herz kaum zu wuͤnſchen wagt.
Wie von Traͤumen erwacht, ſehen wir denn unſer
Gluͤck,
Sehns mit Augen und glaubens kaum.
Und nun zeiget er uns erſt die Veranlaſſung aller
dieſer Betrachtungen, indem er ſchließt:
Dieſes Gluͤcke ward mir, als ich zum erſtenmal
Bodmers Armen entgegen kam.
Anderemale laͤßt der Dichter gleich anfangs den Ge-
genſtand, der ihn beſebt, ſehen, verweilet ſich kurz da-
bey, verliehrt ihn denn aus dem Geſicht, und haͤlt
ſich bis ans Ende, mit Aeußerung der Empfindun-
gen auf, die er in ihm veranlaſſet hat. Ein Bey-
ſpiel hievon giebt uns Horazens Ode auf den uͤber
die See fahrenden Virgil. Der Dichter zeiget uns
gleich ſeinen Gegenſtand, indem er mit dem Wunſch
anfaͤngt, daß das Schiff, dem die Haͤlfte ſeiner
Seele anvertraut iſt, gluͤklich fahren moͤge. Denn
verlaͤßt er dieſen Gegenſtand: die Sorge fuͤr ſeinen
Freund fuͤhret ihn auf verdrießliche Betrachtungen
uͤber die Kuͤhnheit der Menſchen, die es zuerſt ge-
wagt haben, die See zu befahren; dann kommt er
in dieſer Laune auf noch allgemeinere Betrachtun-
gen uͤber die Verwegenheit der Menſchen, die alles
wagt, was ſie nicht wagen ſollte, bis er mit dem
uͤbertriebenen Gedanken ſchließt:
Cœlum ipſum petimus ſtultitia; neque
Per noſtrum patimur ſcelus
Jracunda Iovem ponere ſulmina
Hier iſt alſo der Plan der angefuͤhrten Klopſtokiſchen
Ode gerad umgekehrt. Beyde zeigen uns den Ge-
genſtand, der den Dichter ins Feuer geſezt nur einen
Augenblik, und halten ſich durch die ganze Ode bey
der Wuͤrkung deſſelben auf ihr Gemuͤth auf.
Andremale fuͤllt der Gegenſtand allein den ganzen
Geſang aus. So iſt die zehnte Ode des Horaz im
erſten Buch, ein Lobgeſaug auf den Mercurius,
ohne die geringſte Ausſchweifung auf Nebenſachen;
der Dichter wendet ſein Aug mit keinen einzigen
Blik von ſeinem Gegenſtand ab. Klopſtoks Ode
die beyden Muſen, iſt eine hoͤchſt poetiſche Beſchrei-
bung des Gegenſtandes, ohne die geringſte Aus-
ſchweiffung auf Nebenſachen; und die meiſten Oden
des Anakreons ſind liebliche Schilderungen eines
Gegenſtandes, den der Dichter nicht einen Augen-
blik verlaͤßt.
Jn andern Oden wechſeln Urſach und Wuͤrkungen
wechſelsweis ab. Der Dichter macht zwar oͤftere,
aber kurze Ausſchweifungen von ſeinem Gegenſtand,
kommt aber bald wieder auf ihn zuruͤk. Oft aber
ſehen wir ihn in einem hohen poetiſchen Taumel,
deſſen Veranlaſſung wir kaum errathen, und unter
deſſen mannigfaltigen Wendungen wir kaum einen
Zuſammenhang erbliken. Ein Beyſpiehl hiervon
giebt uns Horazens vierte Ode im dritten Buch.
Der Dichter faͤngt an die Calliope, die vornehmſte der
Muſen, vom Himmel herunter zu rufen, und bittet ſie
irgend ein langes Lied, in welchem Ton es ihr ge-
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 832[814]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/249>, abgerufen am 22.11.2024.
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